Die Hueterin der Geheimnisse
beobachtete er Faina. Sie war zwar keine ausgesprochene Schönheit, hatte jedoch große blaue Augen, die so rein auf die Welt schauten wie die eines Kind, aber doch mit der Klugheit einer Frau. Er begriff, wieso Alston, ein Mann mit klarem Verstand und absoluter Loyalität, sich von ihr angezogen fühlte. Andererseits hat für mich jede Frau etwas Begehrenswertes, dachte er wehmütig. Er überlegte, wie lange es schon her war, dass er einer Frau beigelegen hatte. Seit dieser Kellnerin in Connay, wohin er wegen der Jagdrennen geritten war, kam es ihm vor wie Monate, aber so lange war es doch wohl nicht her, oder? Nach Bramble hatte er fast ein Jahr lang wie besessen Frauen hinterhergestellt, um sich zu beweisen, dass Bramble nichts Besonderes gewesen war. Als das nicht funktionierte, hatte er sich von Frauen, die ihn begehrten, nachstellen lassen, und das geschah oft genug. Aber auch das war schon eine Weile her.
Zum Dank für den Ziegenbraten und das Gemüse, das sie ihm servierte, lächelte er Faina an. Dann schenkte er Lady Sorn Wein nach.
»Wie geht es voran, Lord Leof?«, stellte sie die Frage, die sie jeden Abend stellte.
Er fasste die Arbeit des Tages zusammen, und sie hörte
zu und nickte und sprach ihre Anerkennung aus, so wie sie es jeden Abend tat. Er war sich nie sicher, wie viel von den technischen Dingen, die er ihr erzählte, sie eigentlich verstand. Er vermutete jedoch, dass es mehr war, als sie sich anmerken ließ. Vermutlich wusste und fühlte Sorn immer mehr, als sie sich anmerken ließ.
Er erläuterte gerade, dass sie mehr Steine aus dem blauen Steinbruch in Springhill anfordern mussten, als an der Tür Unruhe entstand und Hodge die Halle betrat. Sorn und Leof standen beide auf und gingen auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Er war vom Staub der Straße bedeckt und erschöpft, verneigte sich jedoch förmlich vor den beiden. Dann schaute er von einem zum anderen, unsicher, wem er Bericht erstatten sollte.
»Wenn Eure Nachricht vertraulich ist, Sergeant, kann Lord Leof Euch in meinem Salon empfangen.«
Leof nickte, bedeutete ihr jedoch, sich ihnen anzuschließen. »Mein Lord will, dass Ihr informiert bleibt«, sagte er ihr. Er sah, wie sie zart errötete, als habe sie dies nicht erwartet. Während sie zum Salon gingen, hüpfte Fortune um Sorn herum, doch diese mahnte ihn zur Ruhe, sodass er zu seinem Stammplatz am Feuer zurückkehrte und mit erhobenem Kopf abwechselnd die Flammen und Sorn betrachtete.
Kaum war die Tür zu, kam Hodge zur Sache. »Als wir ankamen, waren die Geister schon weg, aber die Stadt ist ein einziges Leichenhaus. Sie müssen nach unserer Schätzung die Hälfte der Stadtbewohner umgebracht haben. Sicher sind wir nicht, weil einige sich von den Klippen gestürzt haben, um ihnen zu entkommen, und wir konnten nicht alle Leichen bergen. Andere sind schlichtweg davongelaufen und nicht zurückgekehrt. Ich kann es ihnen nicht verübeln.«
»Mein Lord hält die Stadt besetzt?«, fragte Sorn.
Hodge nickte. »Der Stadtdirektor und die meisten Mitglieder des Rats sind tot. Die Bewohner haben Angst, die Geister könnten zurückkehren. Sie haben uns mit offenen Armen empfangen. Unsere Jungs leben in Saus und Braus - es gibt jede Menge Platz für sie.« Er sprach mit grimmiger Stimme, und Leof bekam eine Ahnung davon, in welchem Zustand die Stadt gewesen sein musste, als Hodge mit seinen Männern dort angekommen war.
»Lord Thegan bringt den Rest der Bewohner dazu, die Stadt zu befestigen; sie benutzen die Steine der leerstehenden Gebäude dazu, Mauern und andere Befestigungsanlagen anzulegen.«
Leof nickte. »Was benötigt er von uns?«
Hodge reichte ihm eine Liste. »Vorräte, Rüstung, Waffen vor allem. Und er will, dass wir Steinmetze aus anderen Städten rekrutieren und nach Carlion schicken, damit sie dort bei den Bauarbeiten der Befestigung helfen. Aber wir sollen auf keinen Fall Arbeiter aus Sendat abziehen, sagt er.«
»Sonst noch etwas?«, fragte Leof, während er die Liste studierte. Hodge zögerte. »Nur für Eure Ohren, mein Lord.« Er schaute Sorn an. »Und für die Euren wohl auch, meine Lady … Wir haben außerhalb der Stadt eine große durchwühlte Begräbnisstätte entdeckt. Überall Knochen. Alte Knochen. Sehr, sehr alt.«
Sorn verstummte und fing dann an, wütend im Raum auf und ab zu gehen, so als könne sie sich nicht recht im Zaum halten. »Er benutzt die Knochen dazu, die Geister zu erwecken«, sagte sie. »Die Knochen der Getöteten. Oh, das ist eine
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