Die Hueterin der Geheimnisse
wurde das in einigen der überlieferten Geschichten so berichtet, die Bramble gehört hatte. Aber in den Domänen gab es keine Leibeigenen. Warum, wusste sie nicht genau. Den Geschichten zufolge hatte Acton es verboten … Nur freie Männer durften die Berge überqueren. Ganz sicher würde sie früher oder später herausfinden, was es damit auf sich hatte …
Der Leibeigene hielt inne und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es war mit Sicherheit das eines Mannes, denn eine Frau hätte es nicht geschafft, diesen Pflug durch den steinigen Boden zu ziehen. Nicht weit entfernt bauten Acton und eine Gruppe junger Männer ein Haus aus Holz und Stein. Ein älterer Mann, wahrscheinlich der Maurer, gab ihnen Anweisungen, suchte die Steine für jede einzelne Lage aus und vergewisserte sich, dass sie zusammenpassten und sich allmählich von dem breiten Sockel aus nach oben hin verjüngten. Mörtel gab es keinen. Kleine Jungen hielten in Abständen Balken, bis die Steine die entsprechende Höhe erreicht hatten, um diese zu stützen. Diese Balken mussten,
so dachte Bramble, das Grundgerüst für die Felder aus Flechtwerk sein. Dieses wiederum wurde derweil von einer Gruppe Frauen geflochten, die unter einem Baum saßen. Asa war unter ihnen und auch die Mutter des Mädchens Friede, das sich damals in dem Sturm verirrt hatte.
Und da war auch das Mädchen selber, mittlerweile eine Frau; sie hinkte mit ihrer Krücke an der einen Seite und trug an ihrer anderen Schulter ein Bündel Weidenruten. Sie lachte über etwas, das ihre Mutter gesagt hatte, und ihr Gesicht strahlte. Hübsch war sie nicht, aber stark und gesund, trotz der allgegenwärtigen Krücke. Sie ließ ihr Bündel Weidenruten vor Asas Füße fallen und lockerte ihre Schultern, als sei die Last schwer gewesen. Ihre Mutter sagte mit besorgtem Gesicht etwas, doch Friede winkte nur ab und drehte sich ruckartig um, um von einer Gruppe junger Mädchen, welche die Weidenäste abschälten, ein weiteres Bündel entgegenzunehmen. Das war typisch für Friede, dachte Bramble, dass sie sich nicht einfach hinsetzte und mit den anderen Blätter abzupfte. Es war typisch für sie, die schwerere Aufgabe für sich zu wählen, die mit mehr körperlichem Einsatz verbunden war. Einen Augenblick lang wünschte sich Bramble, diese Welt einmal durch Friedes Augen sehen zu können statt durch die eines Leibeigenen. Vermutlich hätte sie sich in ihrem Kopf ganz wie zuhause gefühlt.
Die Sonne stand hoch oben am Himmel, und Bramble erkannte, dass sie nicht hinter den Bergen aufgegangen war, sondern in den Ebenen. Sie befanden sich also in den Domänen und bauten eine neue Siedlung. Bramble war verblüfft. War die Schlacht am Death Pass bereits vorbei? War die Invasion beendet? Das wiederum wäre typisch für die Götter gewesen. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie die Invasion verhindern sollte, und die Götter hatten ihr die Entscheidung abgenommen.
Nun brauchte sie nur noch Acton zuzuschauen, bis er starb, und darauf achten, wo seine Knochen lagen. Es war nicht nötig, eine Entscheidung zu fällen, nicht nötig, etwas zu begreifen. Die Invasion war vorüber, tausend Jahre her und keine Angelegenheit, in die sie sich einmischen konnte. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert, selbst unter dem schweren Joch. Schließlich war es nicht ihre Last.
Der Leibeigene hatte das Ende der Furche erreicht und blieb stehen, um sich auszuruhen. Dabei schaute er ins Tal hinab auf eine Stelle, wo zwischen Lärchen und Fichten ein Weg zu erkennen war. Das Gras auf beiden Seiten des Wegs war frühlingsgrün, doch auf den Hängen nicht weit oberhalb lag Schnee, und die kalte Luft brannte dem Leibeigenen in den Lungen. Der Bewegung und Flinkheit seiner Augen nach zu urteilen, verfügte er über eine rege, lebhafte Auffassungsgabe. Er nutzte die Gelegenheit, um alles in sich aufzunehmen, was er konnte: den Bau des Hauses, die Frauen - wobei sein Blick insbesondere auf einer von ihnen verweilte, einer jungen Blondine, die sich kichernd mit Friede unterhielt - und schließlich wieder den Weg. Zwischen den Bäumen tauchten plötzlich Reiter auf, woraufhin der Leibeigene einen Ruf ausstieß. Warnung oder Begrüßung?, fragte sich Bramble.
Die Männer unterbrachen ihre Arbeit an dem Haus und wischten sich die Hände ab, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Deren Anführer war Hawk. Er ritt auf einem Fuchs, einer langbeinigeren Version der zotteligen Bergponys von jenseits des Bergs. Eines der
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