Die Hueterin der Geheimnisse
heute gesund und munter war. Wegen Safred. Sie atmete tief aus und fühlte sich plötzlich sehr müde.
»Können uns die Götter nicht einfach sagen, wo die Knochen sind?«, fragte sie deshalb.
Safred schien geradezu verlegen zu sein. »Sie wissen es nicht.«
»Ich dachte, sie wüssten alles.«
»Sie schenken Menschen nicht so viel Beachtung. Erst
wenn etwas Großes geschieht oder wenn sie an jemandem Gefallen finden. Acton - ich glaube nicht, dass sie damals von der Invasion so viel mitbekommen haben. Es ging ja bloß um Menschen, die gegen Menschen kämpften.«
Bramble begriff. Menschen kämpften gegeneinander. Man brauchte sich nur Lord Thegan anzuschauen, der sich für den Krieg gegen das Seevolk rüstete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie deutlich Maryroses Blut auf dem Boden, Merricks bis auf den Knochen abgehackten Arm. Dafür war ein menschlicher Zauberer verantwortlich gewesen. O ja, Menschen töteten einander.
»Was ist mit den Steinen?«
Sofort holte Martine ihren Beutel hervor und warf die Steine. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nichts. Sie sprechen nicht zu mir.« Sie schaute Bramble an. »Es tut mir leid. Das passiert manchmal, wenn die Götter im Spiel sind.«
Bramble starrte auf die Tischplatte. Ihr Herz zog sie nach Carlion; ihr Instinkt sagte ihr, sie solle den Göttern gehorchen. Die Küche war alles andere als ein Altar, aber … Wie sie es daheim in ihrem Dorf Wooding immer getan hatte, fragte sie die Götter stumm: Soll ich jetzt nach Carlion gehen? Leise, wie sie es so häufig getan hatten, um sie vom Wandern abzuhalten, erwiderten sie: Noch nicht . Tja, das war es dann wohl. Safred musterte sie schockiert, so als hätte sie Frage und Antwort ebenfalls gehört. Vielleicht hatte sie das ja wirklich. Bramble erwiderte ihren Blick reglos und kostete dabei Safreds Ungewissheit aus.
»Wird es lange dauern?«, fragte sie.
Safred zögerte. »Ich bin mir nicht sicher … Aber hier können wir es nicht tun. Wir müssen zum Großen Wald. Dort gibt es einen See, sagen die Götter.«
»Also«, sagte Bramble, »dann wollen wir doch mal sehen, ob ich dich richtig verstehe. Ich muss irgendwo zu einem
See, die Brosche auf eine Art einsetzen, die du nicht verstehst, um etwas zu tun, das du nicht verstehst, um den Todesort des größten Bastards aller Zeiten zu finden, der vor tausend Jahren gestorben ist und dessen Knochen vielleicht unwiderruflich verloren sind und der wohl kaum willens ist, uns zu helfen.«
Bramble und Safred starrten einander feindselig und stumm an.
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Safred schließlich.
»Hmm«, sagte Bramble.
Safred sah sie an. »Es besteht ein Risiko … Mancher, der sich auf eine solche Reise begibt, kehrt nicht wieder zurück.«
Kaum merklich lächelnd, fletschte Bramble die Zähne.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich bin gut im Wiederkehren.« Und dann würde sie nach Carlion gehen, den Zauberer finden und ihn töten.
Zels Geschichte
Mord ist ein hässliches Wort, daran gibt es nichts zu zweifeln. Aber es ist auch ein festes, wie ein Stein, den man in der Hand hält. Ich ging zur Steinedeuterin, und sie hat diesen Stein für Mord gleich aus dem Beutel gezogen und dazu den für Notwendigkeit.
Wir waren Wanderer, mein Bruder und ich. Wir machten die Runde, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wir schnorrten, wo wir konnten, arbeiteten, wo wir konnten, sangen jeden Abend in den Gastschenken für Essen und für ein Dach über dem Kopf im Winter, draußen im Stall. Wir sangen, bis Flax’ Stimme brach; ach, er hatte eine Stimme, die einem unter die Haut und ins Blut ging, süß wie die erste Liebe. Wenn Flax diese hohen, zitternden Töne in den Gasthäusern erklingen ließ, wurden selbst die ungehobeltesten Gesellen still und sentimental und warfen uns manchmal sogar Münzen zu. Für unser Essen bumsen musste ich nicht so oft.
Dann brach seine Stimme, und wir wussten, dass er mit dem Singen aufhören musste oder riskieren würde, sie für immer und ewig zu verlieren.
Damals befanden wir uns in Sandalwood, am Stadtrand in der Nähe der Gerbereien. Also marschierten wir nach Pless und kehrten in das Haus unserer Eltern zurück.
Vorher hatten sie sich immer darüber gefreut, uns zu sehen.
Auch sie waren Wanderer gewesen, alle beide, waren ihre ganze Jugend lang umhergestreift, hatten dabei Höhen und Tiefen erlebt, waren in der ganzen bekannten Welt umhergezogen. Mama erzählte mir einmal, dass sie sogar bis zur südlichen
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