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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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Mama auch, denn ich hatte beiden Schlafpulver in den Tee getan.
    Ich öffnete den Riegel an ihrem Fenster, so als hätte ihn ein zu heftiger Windstoß aufgestoßen. Dann schloss ich die Tür hinter mir und überließ sie dem mörderischen Frost.
    Es war ein langer Winter, den wir wie eingesperrt in dem Haus verbrachten. Flax und ich übten für unser neues Programm, und er wurde jeden Tag kräftiger. Papa verbrachte jetzt mehr Zeit mit uns und weniger mit seiner Geliebten. Davon abgesehen wirkte er nicht allzu betrübt. Bevor wir ihn verließen, fragte er uns, was wir davon hielten, wenn er seine Geliebte heiraten würde. Maude nannte er sie. Wir zuckten mit den Schultern und gaben ihm unseren Segen. Uns war es völlig einerlei.

Leof
    Als Leof erwachte, hörte er die Stimme seiner Mutter. »Geh nach Hause, Kind«, sagte sie. »Lass diesem Ort den Frieden und kehr zurück zu jemandem, der dich liebt.«
    Mühsam richtete er sich auf und murmelte: »Mama?« Er rechnete irgendwie damit, sich in seinem Schlafzimmer zuhause zu befinden. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn er seinen Bruder schnarchen und die Seilrolle am Brunnen im Hof rasseln gehört hätte, während die Stalljungen die Wassereimer für die Pferde füllten.
    Nicht damit gerechnet hingegen hatte er, sich auf der schwankenden Krone einer Kiefer wiederzufinden, eingeklemmt zwischen dem Stamm und einem Ast. Ihm platzte fast der Schädel, solch starke Kopfschmerzen hatte er. Das Licht der Dämmerung war nicht golden, sondern grau, und von dem Gipfel bis zum Boden war es ein weiter, sehr weiter Weg.
    Vor Kälte zitternd versuchte er, seinen körperlichen Zustand einzuschätzen. Er war zwar nass, aber nicht völlig durchnässt, als sei seine Kleidung bereits eine Zeit lang getrocknet; sie fühlte sich klamm an und roch nach Seetang.
    Mühsam manövrierte er sich in eine bequemere Position, setzte sich in die Astgabel des Baums und hielt Ausschau. Die Welle hatte ihn weit landeinwärts mitgerissen; er konnte den See nur durch die Bäume hindurch sehen, und das auch
nur, weil viele von ihnen umgeknickt oder ihre Äste abgerissen waren. Der Waldboden unter ihm war ein Durcheinander aus zersplitterten Ästen und umgerissenen Bäumen. Und Leichen. O Götter des Winds und des Sturms, es waren die Leichen seiner Männer. Er sah drei, vier, mindestens fünf. Sie lagen da, dem Tod ergeben, die Gliedmaßen gekrümmt, manche unter Bäumen begraben, andere lagen mit ausgerenkten Gliedern auf ihnen.
    Er hatte sechs Pferde und fünfzehn Bogenschützen unter seinem Befehl gehabt; vielleicht hatten einige andere auch Glück gehabt. Bei dem Gedanken hielt Leof inne, er erinnerte sich an die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte, als er aufgewacht war. Vielleicht hatte es gar nichts mit Glück zu tun. Vielleicht hatte der See diejenigen verschont, die er verschonen wollte. Falls dem so war, warum dann ihn? Warum ihn und nicht Broc, dachte er, als er diesen beim Herunterklettern entdeckte.
    Broc lag auf einem zersplitterten Baumstamm, sein Rücken war so zerschmettert wie der Baum. Er sah älter aus als am Abend zuvor, als habe er vor seinem Tod Schmerz und Verzweiflung gekostet. Leof erinnerte sich an seinen Vater, der ihn vor zweiundzwanzig Jahren, als Leof acht gewesen war, mitgenommen hatte, um ihm zu zeigen, was der Eiskönig den Menschen in den Dörfern angetan hatte, die er geplündert hatte. Überall hatten Leichen herumgelegen, gnadenlos niedergemetzelt, und wofür? Für ein paar billige Schmuckstücke und eine Horde Ziegen. Kaum etwas war gestohlen worden. Sein Vater nötigte ihn dazu, sich jede Leiche anzuschauen - Kinder, Frauen, Männer, Großväter und Großmütter, die allesamt abgeschlachtet und in ihrem Blut liegen gelassen worden waren. Über dem Gesicht eines kleinen Mädchens etwa im gleichen Alter wie er summten die Fliegen. Bei diesem Anblick hatte er sich übergeben müssen.
Er hatte sich dafür geschämt, doch sein Vater hatte es verstanden.
    »Du wirst Männer in der Schlacht verlieren«, hatte sein Vater gesagt. »Das wird hart sein. Aber es ist nicht so hart, wie die Leichen der Unschuldigen zu sehen, die zu beschützen du versäumt hast.«
    In diesem Moment hatte Leof sich geschworen, Soldat zu werden, um die Menschen seines Landes vor den Angreifern zu schützen, die in zwei Dörfern nicht einen einzigen Menschen am Leben gelassen hatten. Damals und in den Jahren danach, bei der Verteidigung der Domäne gegen die Überfälle des Eiskönigs, hatte er

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