Die Hueterin der Geheimnisse
nahmen sie das Versprechen ab, nicht die Treppe herunterzukommen, wenn Besuch da war. Ich zuckte mit den Achseln und sagte: »Wenn ihr wollt«, denn damals war das kein Problem für mich.
Mama wollte uns wieder loswerden, das stand fest. Sie machte stets ein besorgtes Gesicht, wenn die Tür aufging, aus Angst, ein Nachbar könnte vorbeischauen. Papa wurde still und verschwand vor dem Abendessen meistens zu seiner Geliebten. Und das hellte Mamas Laune auch nicht gerade auf.
Wenn Flax gesund gewesen wäre, hätte ich einfach unsere Sachen gepackt und wäre mit ihm weitergezogen, Winter hin oder her. Aber die Kräuterfrau nahm mich beiseite und
warnte mich, es werde ihn das Leben kosten, wenn er vor dem Frühjahr auf Wanderschaft ginge, und ich glaubte ihr, denn auch als sein Fieber weg war, war er ganz still und blass und hustete nach wie vor wie ein alter Mann.
Sie wussten, dass ich ohne ihn nicht gehen würde. Sie ließen es nicht zu, dass ich in den Gasthäusern sang oder jonglierte, aus Angst, es könnte bekannt werden, dass ich ihre Tochter war. Ich steuerte so viel zum Haushaltsgeld bei, wie ich konnte, musste jedoch einiges für das Frühjahr zurückbehalten, damit wir uns wieder auf den Weg machen konnten. Ich machte mich im Haus nützlich, aber das war nicht viel im Vergleich zu dem, was wir verzehrten, vor allem Flax, jetzt, da sein Fieber gesunken war und er Hunger wie ein Scheunendrescher hatte.
Papa saß zuhause immer über seinem Bier brütend am Feuer. Aber meistens arbeitete er draußen auf dem Hof mit den Pferden.
Irgendwann fing Mama an, mitten in der Nacht ihr Silber zu zählen und dabei zu murmeln. Nacht für Nacht wachte ich auf und hörte es klimpern und ihre murmelnde Stimme beim Zählen, ganz allein in ihrem Bett in der klaren, eisigen Stille, während Papa weg war, bei seiner Geliebten. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen dürfen, als ich in Flax’ Zimmer ging und Mama dabei überraschte, wie sie ihm ein Kissen auf das Gesicht drückte.
Ich schob sie weg von ihm, und eigentlich hätte es für mich einfach sein müssen, eine alte, rheumatische Frau gegen eine junge wie mich. Doch es war alles andere als einfach. Sie wehrte sich, als ginge es um ihr Leben, und ich musste sie erst zu Boden werfen, bevor sie aufgab. Flax schlief dabei die ganze Zeit, und ich ahnte, dass sie ihm ein Schlafmittel in den Tee gegeben hatte.
»Ihr fresst uns die Haare vom Kopf«, sagte sie, auf dem Boden
liegend, und starrte mich an wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Ihr saugt uns aus, saugt uns aus …«
»Dann lass mich jonglieren gehen«, sagte ich. »Ich bezahle für Flax und mich, für uns beide.«
»Nein, nein«, sagte sie und schüttelte dabei so energisch den Kopf, dass sich ihr Haar aus dem Band löste. »Ihr werdet Schande über uns bringen, und dabei waren wir so nahe daran, so nahe.«
»Dann halt dich fern von ihm. Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, werde ich nicht tatenlos zusehen und den Mund halten. Ich werde dich in der ganzen Stadt als Mörderin brandmarken«, sagte ich. »Wir bleiben bis zum Frühling hier, Mama, bis Flax wieder auf Wanderschaft gehen kann. Finde dich damit ab, denn es lässt sich nicht ändern. Wenn euch der Posten des Stadtrats so wichtig ist, dann ist der Unterhalt für Flax und mich der Preis, den ihr dafür bezahlen müsst.«
Sie ging, aber ich wusste, dass die Sache noch nicht ausgefochten war. Ich würde sie den ganzen Winter über im Auge behalten müssen, und das war zu viel für mich. Irgendwann würde ich schlafen müssen. Essen, was sie kochte, trinken, was sie aufgesetzt hatte. Es wäre zu einfach für sie, heimlich etwas ins Essen zu mischen.
Eine Zeit lang überlegte ich, mit meinem Vater darüber zu reden. Aber ich kannte ihn. Er war stets einer Meinung mit ihr gewesen, außer was die Geliebte anging. Nun wurde mir auch klar, dass sie ihn deswegen nie zur Rede gestellt hatte. Sonst hätte er wohl wie immer klein beigegeben. Wenn sie es geschafft hätte, Flax umzubringen, hätte er keine Fragen gestellt.
Also musste sie uns beide umbringen.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich zum Steinedeuter ging, denn um ehrlich zu sein, sah ich keinen Ausweg mehr.
Der Deuter zog den Stein mit dem Symbol für Mord aus seinem Beutel und den für Notwendigkeit. Da überlegte ich: sie oder ich. Sie oder Flax.
Zwei Leben gegen eines, rechnete ich. Ich tat es noch in der gleichen Nacht, als Papa bei seiner Geliebten war und Flax tief und fest schlief, so wie
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