Die Hueterin der Geheimnisse
blutdürstig. Es hieß, er habe beim Morden gelacht.
Zu hören, dass ein Zauberer uralte Geister herbeibeschworen und ihnen körperliche Kraft verliehen hatte, war das eine, aber sich vorzustellen, Actons Geist heraufzubeschwören, war etwas ganz anderes. Denn das war es sicher, was sie meinte. Und das war doch lächerlich, oder nicht?
Bramble wurde sich plötzlich bewusst, dass die Sonne unterging und die Schatten länger wurden und sich bis in die Ecken des Zimmers ausstreckten. Sie schüttelte ihr Unbehagen ab und schaute sich am Tisch um. In jedem Gesicht spiegelten sich auf die eine oder andere Weise Unschlüssigkeit und Widerwillen wider. Außer bei Ash. Seine Miene war betont ausdruckslos.
»Dem Lied über die Zauberin aus Turvite zufolge, welche die Geister erweckt hat«, sagte Ash leise, »braucht man die Knochen des Menschen, der getötet wurde. Actons Leiche wurde nie gefunden. Selbst wenn wir lernen könnten, wie man einen Geist erweckt, müssten wir erst einmal seine Knochen finden.«
»Und warum sollte er dann seine Schuld zugeben und Wiedergutmachung anbieten?«, fragte Zel. »Zu Lebzeiten hat ihm das, was er getan hat, nicht leidgetan.«
Bramble fiel auf, dass Zel wieder in die Sprache der Wanderer verfiel - es war ein Zeichen dafür, wie sehr die Vorstellung, Acton herbeizubeschwören, sie erschütterte. Das galt für sie alle. Ashs Hand war zu dem kleinen Beutel an seinem Gürtel geglitten.
»Das stimmt«, sagte Safred langsam und lehnte sich auf
ihrem Stuhl zurück. »Aber mit dem Tod wird man einsichtig.«
»Und die Knochen?«, fragte Martine.
»Es gibt eine Möglichkeit, die Knochen zu finden - wenn Bramble und Ash dazu bereit sind.« Sie schaute Ash an. »Du hast etwas, das Acton gehört hat.«
Ash hielt es bereits in der Hand. Er war in Gedanken schon einen Schritt weiter gewesen, erkannte Bramble. Er beugte sich nach vorn und legte eine Brosche auf die Mitte des Tisches. Es war die Mantelbrosche eines Mannes, reich verziert und wunderschön. Sie lag in einem Strahl des Sonnenlichts und sah hübsch, aber gewöhnlich aus.
»Die hat Acton gehört?«, fragte Zel fasziniert. Sie streckte die Hand aus, als wolle sie sie berühren, zog sie dann jedoch wieder zurück und vergrub sie in ihrem Schoß. Bramble schaute sie mit hochgezogener Braue an.
»Beißen tut sie nicht. Darf ich?«, fragte sie Ash, und als dieser nickte, beugte sie sich vor, um die Brosche zu berühren.
Safred legte ihre Hand auf Brambles, und diese hielt in der Bewegung inne. »Nein. Um benutzt zu werden, muss die Brosche von ihrem rechtmäßigen Besitzer zur rechten Zeit und am rechten Ort der wiedergeborenen Jagdbeute übergeben werden.«
»Ach, verdammte Hölle aber auch!«, sagte Bramble. »Zaubersprüche mit Zaubersprüchen bekämpfen, ist es das?« Sie war hundemüde, saß jedoch kerzengerade auf ihrem Stuhl, entschlossen, sich Safred gegenüber keine Schwäche anmerken zu lassen. Die Brosche zog ihren Blick magisch an. Sie fühlte sich immer noch etwas benommen, aber dies konnte an dem Kampf gegen die Vergiftung in ihrem Arm liegen.
»Ja«, sagte Safred leise. »Das ist deine Aufgabe, Bramble. Nicht zu töten, sondern zu leben.«
Bramble zwang sich dazu, ihren Blick von der Brosche loszureißen. »Wie meinst du das?«
»Von uns allen hier an diesem Tisch bist du die Einzige mit gemischtem Blut. Cael und ich gehören zu Actons Volk, die anderen sind reinrassige Wanderer. In dir vereinigt sich beides - die Verbindung zu den Göttern durch dein Wandererblut, die Verbindung zu Actons Volk durch die Blutlinie deiner Mutter. Du bist die Einzige, die es tun kann.«
Bramble schwieg. Martine stellte für sie die Frage.
»Was tun kann?«
»Die Stelle finden, an der Acton gestorben ist.«
»Wie denn?«
Safred wirkte unbehaglich. »Ich kenne die Schritte, die es zu tun gilt, aber ich weiß nicht, was passieren wird. Wirst du es tun? Wirst du dich von der Brosche führen lassen?«
Die anderen hielten den Atem an, ihrer Antwort harrend. Bramble wollte sagen: »Nein. Nein, ich werde stattdessen nach Carlion reiten und mich vergewissern, dass Maryrose tot ist und meine Eltern wohlauf sind. Dann werde ich Saker aufspüren und ihm den Bauch aufschlitzen.« Doch als sie die Schultern hochzog und Luft holte, um es auszusprechen, spürte sie, wie geschmeidig sich der Arm in seinem Gelenk bewegte. Sie machte sich noch einmal bewusst, dass der Arm überhaupt keine Narbe aufwies. Dass sie gestern im Sterben gelegen hatte und
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