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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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zurückblickte, dachte ich an Snow und dass ich ihm nun die Geschichte würde erzählen können. Und ich dachte an Lidi, der noch ein wenig länger auf mich würde warten müssen. In diesem Moment wurde mir klar, was der Geist genommen hatte. Den letzten Teil von Dila. Den Teil, der Lidi liebte.
    Ich konnte mich an ihn erinnern. Ich konnte mich auch daran erinnern, ihn geliebt zu haben. Ich konnte mich an meinen Kummer erinnern, als ich ihn verloren hatte. Aber das Gefühl selbst war verschwunden. Der Teil meines Herzens, den er eingenommen hatte, seit er mich zum ersten Mal geküsst hatte, war leer. Er war bloß noch eine Erinnerung, als hätte ich von ihm in einer Geschichte gehört.
    Ich spürte die Leere in meinem Herzen jeden Tag, wenn ich mich mit Melken, Säen und Kochen beschäftigte. Ich fühlte mich leichter und zugleich weniger stabil, so als wäre ich ausgehöhlt worden wie ein Kürbis. Ich empfand keinen Kummer, aber es trat auch nichts anderes an seine Stelle, und ich glaubte auch nicht, dass jemals etwas Neues diese Leere füllen würde, weil dies die Natur der Strafe war, dass dieser Teil von mir absterben sollte.
    Es war ein gerechter Handel. Blut, Liebe und Schmerz gegen das Leben meines Sohnes. Ich würde es wieder tun. Aber so war es: Dila in mir wollte unbedingt, dass Lidi auf sie wartete, damit sie gemeinsam wiedergeboren werden konnten. Dila in mir dachte, es sei wahrscheinlicher, dass er auf sie wartete, wenn sie ihn nach wie vor so sehr liebte. Nun aber war ich Apple, voll und ganz Apple, und Apple liebte ihn nicht. Würde er also warten? Wollte ich überhaupt, dass er es tat?
    Es war mir egal. Mir schien es, als würde ich ihn nach meinem Tod lediglich als jemanden begrüßen, den ich einmal
gekannt hatte, ohne mehr Gefühl für ihn zu empfinden als für den Weber in Oakmere, der meine Käseleinen machte. Aber vielleicht kehrt ja der Teil von mir, der bereits gestorben war, der Teil, der Dila war, zurück, wenn es Zeit für mich wird, zur Wiedergeburt zu schreiten, und wird im Tod wieder mit mir vereint werden. Vielleicht werde ich ihn wieder lieben und mit Freude begrüßen.
    Ich werde warten müssen, um es herauszufinden.

Leof
    Am nächsten Morgen begleitete Thegan ihn zu seinem Pferd, was eine große Gunstbezeugung darstellte. Er hielt Leof den Steigbügel und sagte: »Halt mich auf dem Laufenden. Du machst gute Arbeit, aber vergiss auch nicht, die Offiziere auf ihren Anwesen auf dem Laufenden zu halten. Ich denke, wir werden bald die Abgaben einziehen.«
    Leof nickte. Er fühlte sich wie ein Verräter, weil sein Herz bei der Vorstellung, zu Sorn zurückzukehren, einen Freudensprung machte. Er war entschlossen, Thegan nicht zu hintergehen, doch das Bild von ihr, wie sie in der Halle wartete, während die Sonnenstrahlen ihr herbstfarbenes Haar vergoldeten, führte dazu, dass sich sein Herz überschlug. Und darin lag Verrat, genau darin, ob er nun etwas unternahm oder nicht.
    Er wollte sich gerade förmlich verabschieden, als ein gellender, ohrenbetäubender Schrei wie der eines eisigen Dämons erklang. Arrow und Bandys Pferd Clutch bäumten sich auf, und Thegan trat fluchend einen Schritt zurück. Leof gelang es mit Mühe, Arrow unter Kontrolle zu halten, doch Clutch ging durch und galoppierte die Hauptstraße entlang, direkt auf den Hafen zu.
    Erneut ertönte ein gellender Schrei, und dieses Mal blieb Arrow stehen, die Hufe wie eingepflanzt, den Kopf gesenkt und unkontrolliert zitternd. Leof schaute hoch. Thegan
starrte mit bleichem Gesicht in den klaren blauen Himmel. Leof folgte seinem Blick und sah … etwas. Ein Kräuseln am Himmel wie ein Schatten auf einer Wasseroberfläche; nicht wirklich eine Wolke, nicht wirklich etwas Fassbares.
    »Windgeister«, sagte Thegan mit zusammengekniffenem Mund.
    Sie waren schwer zu erkennen, aber jetzt, da Leof wusste, was dort war, konnte er vage, nebelhafte Gestalten ausmachen, die durch den Himmel zischten und ihre langen Arme dabei ausgestreckt hatten, so als wollten sie den Erdboden berühren. Er ging davon aus, dass sie über die Stadt zogen.
    »Wo ist er?«, schrie einer von ihnen. Das Geräusch zerrte an Leofs Nerven, und Arrow zitterte so heftig, dass er schon glaubte, sie werde zusammenbrechen.
    Er stieg ab, stellte sich neben ihren Kopf und beruhigte sie. Sie stupste ihren Kopf gegen seine Brust wie ein Trost suchendes Kind.
    »Wo ist der Zauberer, der uns füttern wird? Findet ihn!« Die Stimme war weder männlich noch weiblich, sie war

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