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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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doch alle mussten sie den Tag über fasten, bevor sie in die jeweilige Höhle gehen durften, um dort zu erfahren, was sie erfahren sollten. Ash hatte all diese Phasen bereits in früheren Jahren durchlaufen, war nun jedoch im Begriff, die beiden letzten Stufen
zu überspringen und direkt die letzte Prüfung, die Kletterpartie, zu absolvieren, um seine wahre Gestalt kennen zu lernen. Dafür musste er drei Tage lang fasten, durfte nur Wasser zu sich nehmen und musste den ganzen letzten Tag über stumm bleiben.
    Der erste Tag verging nur langsam. Bei Sonnenuntergang verschwanden die Männer in den Höhlen und traten wenig später wieder in ihren wahren Gestalten hervor. Nacheinander wurden die Jungen angesprochen und weggeführt. Flax war der letzte. Rowan war es, der ihn ansprach, gemeinsam mit Skink, dessen wahre Gestalt ein Fuchs war. Flax warf Ash einen nervösen Blick zu und zog sich dann ein wenig zögerlich aus. Er schien sich von der Tiefe angezogen, zugleich aber unbehaglich zu fühlen, was nicht unbedingt etwas Schlechtes zu bedeuten hatte. Ash hoffte nur, dass man ihm vertrauen konnte. Heute Abend würde er mit den Warnungen der Dämonen konfrontiert werden, den Mahnungen, den Mund zu halten, den feierlichen Schwüren der Geheimhaltung. Diese hinterließen Eindruck, und das war auch so gewollt.
    Als Flax splitternackt war, führten ihn die Dämonen zu Ash an den Höhleneingang. Ash klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Rowan der Dachs führte sie weiter, um das hochlodernde Feuer herum auf den ersten der Abgründe zu, eine Felsspalte, die den Ausgang der Höhle versperrte. Sie war pechschwarz und nur ein paar Schritte breit. Von unten war das donnernde Geräusch des Wassers zu vernehmen. Rowan deutete auf Ash. Dieser erinnerte sich und nickte zur Bestätigung. Diese Warnung wurde üblicherweise bei Tageslicht ausgesprochen, wenn die Männer reden durften. Den kleineren Jungen wurde diese Höhle an ihrem dritten Tag in der Tiefe gezeigt, um sie auf die Nacht vorzubereiten, die hart war.

    »Das ist der Beginn der Tiefe«, sagte Ash und gab damit wörtlich das wieder, was man ihm selbst gesagt hatte. »Hier kannst du deinen ersten flüchtigen Blick auf den Fluss werfen. Das ist nicht der Hidden River, der für uns alle sichtbar vom See kommt. Dies ist der Dancing River, die kleine Schwester des Sees. Sie fließt unterirdisch durch das ganze Land, und niemand kann sie sehen außer uns, hier, wo sie sich uns offenbart, damit wir erfahren können, wer wir wirklich sind. Sie fließt von der Klippe zur Bucht, vom Sand zum Schnee und vereint die Domänen so, wie sie nie ein Mensch vereinen könnte, und macht daraus ein einziges Land. Unser Land, das uns von Wasser und Feuer gegeben und das uns nie weggenommen wurde, ganz gleich was die Hellhaarigen glauben. Aber Obacht! Der Fluss ist nicht der See. Sie ist wild, nicht zahm, sie ist fröhlich und schrecklich; sie ist Liebhaber und der Tod selbst. Sei vorsichtig. Betrüge sie nicht, oder ihre Strafe wird unvorstellbar sein. Schwörst du Treue gegenüber dem Fluss, um deine Wahrheit zu finden?« Sanft fügte er hinzu: »Das musst du nicht, aber wenn du es nicht tust, kannst du nicht weitergehen. Du musst dann bloß bis morgen auf der Lichtung warten.«
    Flax schluckte und schaute zurück zu der Stelle, wo die Dämonen im Schatten des hochlodernden Feuers warteten. »Mit ihnen?« Er schüttelte den Kopf und machte den Mund auf. »Ich …«
    Ash unterbrach ihn rasch. »Sag es nicht, wenn du es nicht wirklich meinst. Das hier gilt ein Leben lang, Flax. Ein Zurück gibt es nicht.«
    Unschlüssig begegnete Flax seinem Blick. »Will denn nicht jeder wissen, wer er wirklich ist?«, fragte er.
    »Nein. Nicht jeder«, sagte Ash. »Manche haben Angst davor. Manche sind so mit sich im Einklang, dass sie es nicht brauchen. Und wieder andere … manche glauben, sie wissen
es schon und wollen es nicht in Gegenwart anderer bestätigt bekommen. Nicht jeder kommt in die wirkliche Tiefe.«
    Um sie herum warteten die Männer geduldig. Niemand rührte sich. Ash spürte die Anziehungskraft des Flusses, spürte, wie seine Macht aus der Felsspalte zu ihm empordrang. Es war eine andere Macht als die der Götter, wilder, glücklicher, leidvoller. Sie fühlte mehr, so wie Menschen fühlten. Der Fluss begehrte, dass sie weitergingen. Ash nahm dieses Begehren wahr, den Wunsch, zu kennen und gekannt zu werden, zu akzeptieren und akzeptiert zu werden. Dieser Wunsch war im Zentrum der Geheimnisse

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