Die Hueterin der Geheimnisse
Nahrung zu benötigen, nur ein kleiner Schluck Blut von jedem Wesen, das er tötete. Diesen aber benötigte er, wenn auch vielleicht nicht so regelmäßig, wie sie trinken musste. Der Jäger brachte ihr bei, wie man reglos stehen blieb, sodass das Rotwild sie umringte, näher zu ihr kam und sie mit dem Messer ausholen und es in seine Kehle treiben konnte.
»Einen Moment«, sagte er. »Warte noch einen Moment, bis die Angst kommt, bevor du zustößt. Dann wirst du gereinigt werden.«
Aber sie wurde nicht gereinigt, ganz im Gegenteil. Nach dem ersten Mal überließ sie es daher dem Jäger, da dieser nach einer erfolgreichen Jagd gelassener, glücklicher wirkte. Auch wenn er hinterher von Blut überströmt war, verschwand dieses sofort. Dabei flackerte das Licht ein wenig, sodass er vorübergehend schwer zu erkennen war. Ein Zeitsprung?, überlegte Bramble, enthielt sich jedoch jedes Kommentars außer einem Lob über die erfolgreiche Jagd.
»Dies ist meine Bestimmung«, sagte er nur, während er den Körper eines Damhirsches für sie mit geschickten und eleganten Schnitten seines schwarzen Steinmessers ausnahm und zerlegte.
Sie fragte ihn nicht nach seinem Namen oder seinem Leben oder sonst etwas, das nicht in direktem Zusammenhang
mit ihrem Weg stand. Ihr Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren, würde von ihm als Schwäche ausgelegt werden, davon war sie überzeugt. Als Anzeichen von Furcht. Sie erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl seines Messers an ihrer Kehle. Dabei hatte sie keine Angst gehabt, nun aber hatte sie eine Aufgabe zu bewältigen, und das machte es schwer, dem Tod ohne Bedauern ins Gesicht zu sehen. Sie war es Acton schuldig, seine Knochen zu finden. Sollte er doch im Tod der Held werden, der er im Leben hatte sein wollen, zu dem er aber nicht mehr ganz hatte werden können.
Obwohl sie ständig darauf achten musste, keine Angst zu zeigen, war Bramble doch glücklicher als je zuvor, außer in den Momenten, als sie auf dem Rotschimmel Jagdrennen geritten hatte. Hier gehörte sie hin.
Sie entdeckte Blaubeeren und Himbeeren, während sie gingen, sammelte Kräuter, wilde Karotten und Zwiebeln, fand winzige süße Pflaumen und kleine Brombeeren. Der Jäger hätte alles Essbare herbeischaffen können, was Bramble nur haben wollte, doch sie war entschlossen, selbst für sich zu sorgen. Schließlich hatte sie dies schon hunderte Male zuvor getan. Nach einigen Tagen brachte der Jäger ihr wachsenden Respekt wegen ihrer Kenntnis der Pflanzen entgegen. Ihm selbst waren sie gleichgültig. Da er außer dem Tod nichts zu verzehren brauchte, waren ihm Pflanzen zwar bekannt, aber nicht wichtig.
Der Jäger brauchte zwar keine Nahrung, musste jedoch schlafen wie sie auch. Nachts betteten sie sich auf weichem Gras. Bramble bot ihm an, ihre Decke mit ihm zu teilen, doch der Jäger lehnte ab. »Mir ist es gleich, ob es warm oder kalt ist«, sagte er und legte sich bequem auf die Seite.
Bramble beobachtete ihn im Schlaf und stellte fest, dass er lediglich die Augen schloss und reglos dalag, regloser als jeder Mensch im Schlaf. Obwohl diese Reglosigkeit fremdartig
wirkte, war sie echt, und das beruhigte Bramble. Der Jäger versuchte nicht, sie auszutricksen. Sie schloss die Augen und fiel in den gleichen leichten Schlummer wie er.
Vier Tage nachdem sie den Baum hinter sich gelassen hatten - oder waren es fünf?, Bramble konnte sich nicht mehr erinnern und fand es angenehm, dass es keine Rolle spielte -, kamen sie an einem Felsgrat an. Bramble erkannte, dass sie auf etwas hinabschauten, was später einmal das Golden Valley sein würde. Das Tal war noch wild, doch die Sohle war dicht mit den Pappeln besetzt, die heute immer noch dort wuchsen. Der Rest des Tals war bewachsen mit dichtem Wald.
Der Anblick brachte sie zum Lächeln. »Ich mag diese Zeit«, sagte sie.
Der Jäger stieß ein kurzes Lachen aus. »Jede Zeit ist gleich«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Sie wanderten einige Tage durch das Tal und hielten sich dann an seiner Mündung westlich des Felsvorsprungs in Richtung Südwesten auf einer langen Diagonalen, die sie an den Fuß der Western Mountains bringen würde, in deren Nähe Actonston lag. An einem bewölkten Tag, an dem ein Sturm drohte, in einem kargeren, trockeneren Bereich des Waldes, in dem Kiefern und Lärchen wuchsen, kamen sie an den Rand einer gerodeten Lichtung, auf der ein Bauernhaus an einem Flussufer stand. Es sah primitiv aus. Es war weder wie die massiven Holzhallen aus Actons Zeit
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