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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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ist keine Eile mehr geboten«, sagte er.
    »Warum nicht?« Bramble befürchtete zwar, dass die Frage eine Schwäche offenbarte, aber sie musste es wissen. Sinn der ganzen Sache war, dass sie keinerlei Zeit zu verschwenden hatte.

    Der Jäger lauschte dem Wald und verlor dabei den verächtlichen Ausdruck auf seinem Gesicht, als wäre er gescholten worden. »Wir reisen in die Vergangenheit«, sagte er, als erkläre er einem Kind etwas. »Also vergeht in deinem Moment keine Zeit. Wir kehren noch zu deinem Moment zurück. Das versicherte ich dir bereits.«
    Bramble fragte sich, wie weit zurück sie bereits gegangen waren. Hundert Jahre? Fünfhundert? Ihr Herz war leicht, und sie schwebte wie auf Wolken. Hier warteten keine Aufgaben und kein Kummer auf sie. Maryrose war noch nicht tot. Niemand wurde dahingemetzelt - jedenfalls nicht mehr, als es immer war, wenn die Kriegsherren ihr Machtgebiet erweiterten. Der Gedanke ernüchterte sie. Sie hatte in letzter Zeit zu viele Todesfälle miterlebt, als dass sie leichtfertig damit umgehen konnte, nicht einmal fünfhundert Jahre in der Vergangenheit.
    Der Jäger glitt durch den Wald, und Bramble zog sich die Stiefel aus und folgte ihm, barfuß, so wie er es auch war, trat dort auf, wo er auch auftrat, und bemühte sich, mit seinen Augen wahrzunehmen. Zwischen diesem Wald und jenem, in dem sie in der vergangenen Nacht gewesen war, bestand kein Unterschied. Er erneuerte sich ewig, und für ihn war die Zeit, so erkannte Bramble, eine Frage der Konzentration, eine Frage, wohin er seine Aufmerksamkeit richtete. Es gab keine Gegenwart , keine Vergangenheit , vielleicht nicht einmal eine Zukunft . Nur den Wald.
    Das Gefühl der Zeitlosigkeit war ein Geschenk des Waldes, merkte sie, so wie das Fernhalten der Stechmücken ein Geschenk des Sees gewesen war. Ein Geschenk für sie, die wiedergeborene Jagdbeute. Bramble fragte sich kurz, ob sie dies für Beck auch getan hätten, wenn er auf diese Reise gegangen wäre. Der Jäger hätte Beck getötet, dachte sie dann mit einiger Befriedigung. Sie wusste, dass sie ihm ohne
Angst hatte entgegentreten können, weil sie schon einmal tot gewesen war, schon einmal für lange Zeit den Tod im Leben erfahren hatte, bevor sie die wiedergeborene Jagdbeute wurde. Beck wäre nicht davor gefeit gewesen, und deshalb hätte er Angst gehabt und wäre gestorben. Das war alles das Verdienst des Rotschimmels.
    Zum ersten Mal seit seinem Tod konnte sie mit purer Dankbarkeit an ihn denken, unberührt von Schuld. Vielleicht war das deswegen so, weil sich sein Tod in den Augen der Quelle der Geheimnisse widergespiegelt hatte, doch wahrscheinlicher wohl wegen der vielen Todesfälle, die sie gesehen, all den Kummer, den sie geteilt hatte bei der Betrachtung von Actons Leben. Sterben tut jeder. Von Bedeutung ist das zuvor gelebte Leben.
    Doch gerade als sie gelernt hatte zu akzeptieren, indem sie den Kummer anderer miterlebte, hatte sie auch Angst erfahren. Ihr Körper hatte erfahren, wie es sich anfühlte, Angst zu haben, hatte erfahren, wie dünn die Grenze zwischen Erregung und panischem Schrecken war. Hier war sie nun also, mit einem nicht menschlichen Wesen, das sich danach verzehrte, sie zu töten, das sie auf gewisse Art töten musste , in einer Landschaft voller Wölfe und Bären und plötzlicher Gefahren, in einer Vergangenheit, aus der es für sie kein Entrinnen gab. Ihr Körper drängte danach, Angst zu empfinden, so wie Elric Angst empfunden hatte und auch Baluch, als er darauf wartete, dass Sebbi starb. Doch sie weigerte sich. Angst zu verstehen war etwas Gutes. Das Wissen darum konnte sie gütiger machen, dachte sie. Doch zuzulassen, dass die Angst sie durchdrang, sich ihrer bemächtigte, würde mehr nach sich ziehen als ihren Tod durch das Messer des Jägers. Es würde bedeuten, sich selbst zu verlieren, jenen Teil von ihr, der den Tod überleben und zur Wiedergeburt schreiten würde.
    Und so schaute sie den fremden Wald an, betrachtete das
Unterholz, in dem sich alles Mögliche verbergen konnte, und sie lachte, und der Jäger lachte mit ihr, ein tiefes, aus dem Bauch dringendes Lachen.
    Die Tage verstrichen, während sie durch den Wald gingen, und Bramble ließ sie vorbeigehen, ohne sie zu zählen. Sie waren nicht genau zur gleichen Jahreszeit zurückgekommen, es war Hochsommer und damit die beste Zeit, um unter dem grünen Schatten der Bäume zu wandern.
    Gelegentlich hielten sie an, um etwas Essbares für Bramble aufzutreiben. Der Jäger schien keine

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