Die Hueterin der Geheimnisse
noch wie die Steinmetzarbeiten aus der ihren. Dieses Bauernhaus war im Sommer eilig zusammengezimmert worden, um sicher sein zu können, einen Unterschlupf zu haben, wenn der Winter kam. Eine kleine Reihe magerer Kühe trabte auf einen Schuppen zu, der zweifellos als Melkscheune diente. In einem Pferch nahe der Scheune blökten vor sich hin trippelnde Kälber nach ihren Müttern.
Sie standen da und betrachteten die Szenerie in Ruhe. In der Ferne durchschnitt das Geräusch von Axthieben den späten Nachmittag. Sowohl der Jäger als auch sie selbst zuckten zusammen und schaute dann einander in einer Art gegenseitigem Verständnis an.
»Komm«, sagte er. »Hier sind zu viele Menschen.«
Er führte sie am Waldrand entlang in Richtung der Berge, bis sie weder die Axt noch das Geblöke der Kühe mehr hören konnten. Der Jäger ging einen tiefen Hohlweg am Berghang entlang, durch eine schmale Schlucht, deren Wände sich binnen weniger Minuten hoch über sie beide erhoben. Am Ende des Wegs, wo sich das ganze Wasser des Tals sammelte, das vom Hügel herabrann, stand ein einzelner, die ganze Schlucht beherrschender Kastanienbaum.
»Seine Wurzeln reichen nicht weit genug zurück, aber er wird uns wieder ein Stück näher ans Ziel bringen«, sagte der Jäger. »Das hier ist ein guter Ort für Erinnerung. Der Baum erinnert sich gut.«
Als sie dieses Mal einen Schritt nach vorn machte und die Hand auf die Rinde des Baums legte, gelangte sie zu einem frühen, ganz frühen Morgen im Winter, reglos und eisig, der Boden war von Frost überzogen; winzige Eiszapfen hingen an jedem der blattlosen Äste. Bramble schaute auf. Die Äste der Kastanie hoben sich dunkel von dem blassen, wolkenlosen Himmel ab. Allmählich kletterte die Sonne über die Kante der Schlucht und beschien den Baum. Jeder Eiszapfen reflektierte das Sonnenlicht mit regenbogenartigen Farben, sodass der ganze Baum im glänzenden Licht aufblitzte, mit Funken und Flammen und Kräuselungen von kaltem Feuer.
So musste sich die Wiedergeburt anfühlen, dachte Bramble, während sie zitternd dastand, wie erstarrt, bis die Sonne nur wenige Minuten später die Eiszapfen so erwärmt hatte, dass ihr Tröpfchen auf das Gesicht fielen und sie aus ihrem Tagtraum
hochschreckte. Sie wandte sich dem Jäger zu, der sie mit Anerkennung, aber auch leichtem Unbehagen beobachtete, als beunruhige es ihn irgendwie, dass sie dem Baum eine solche Wertschätzung entgegenbrachte.
»Komm«, sagte er, »wir müssen den Fluss überqueren.«
Es irritierte sie zu sehen, dass der Jäger im Gegensatz zu ihr beim Atmen keine Dampfwölkchen ausstieß, als sei sein Atem so kalt wie die Luft. Sie versuchte, sich an den Moment zu erinnern, als sein Messer an ihrer Kehle gelegen hatte. Sie war ihm nahe genug gewesen, um seinen Atem zu spüren, konnte sich aber nicht daran erinnern, diesen überhaupt wahrgenommen zu haben.
Bramble angelte ihre Stiefel aus ihren Satteltaschen. Für den Jäger, der die Kälte gar nicht zu bemerken schien, mochte Barfußgehen ja schön und gut sein, aber Frostbeulen waren etwas, das sie lieber vermeiden wollte. Zusätzlich schlang sie sich ihre Decke um die Schultern, fror aber dennoch wie ein Schneider. Sie folgte dem Jäger durch den Schnee, der mit Hasenspuren übersät war, denen die Spur eines Fuchses folgte.
Der Jäger kicherte. »Der Fuchs verfolgt seine Beute. Viel Glück, kleiner Bruder.«
Auch sie lächelte, bis sie sah, dass der Jäger keine Spuren im Schnee hinterließ, obwohl seine Füße darin einsanken. Der Jäger bemerkte, dass sie auf ihre einzelne Fußspur in dem Pulverschnee zurückschaute.
»Ich bin tatsächlich hier« versicherte er ihr. »Ich erlaube bloß dem Schnee, sich an das zu erinnern, was war, bevor ich kam. Ich werde es dir zeigen.«
Er machte einige Schritte, und plötzlich waren Spuren hinter ihnen. Dann drehte sich der Jäger um und wartete, und der Schnee sah wieder aus wie unberührt. Bramble nahm keinerlei Bewegung der Schneeflocken wahr; es war
plötzlich einfach so, als hätte es die Spuren nie gegeben. Es war ein wesentlich kleinerer Eingriff in den Zeitablauf als der, welcher sie zu diesem Moment zurückgebracht hatte. Er beunruhigte sie jedoch viel stärker, weil er so beiläufig ausgeführt worden war. Als wäre die Zeit unendlich dehnbar.
Sie musste ihre Verunsicherung auf der Stelle unter Kontrolle bringen, bevor der Jäger dieser gewahr wurde und ihr als Furcht auslegte. Sie dachte über das Erste nach, das ihr in den Sinn
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