Die Hueterin der Krone
um die Gruppe in Empfang zu nehmen und Robert in die Halle zu eskortieren, konnte sie nirgendwo entdecken, aber Maude war da. Auch sie hatte ihr Hauskleid mit einem aus schlichter, aber sauberer blauer Wolle vertauscht. Auf einem Tisch standen Weinkrüge und Körbe mit Brot und Pasteten bereit.
Robert betrat wie üblich mit forschen Schritten die Halle; sein elastischer Gang betonte seine Größe und seinen kräftigen Körperbau. Doch unter seinen Augen hatten sich Tränensäcke gebildet, und sein Haar war grauer, als Matilda es in Erinnerung hatte. Sie schritt auf ihn zu, um ihn zu umarmen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als ihr Blick auf den Jungen fiel, der wie ein Knappe ein kleines Stück hinter ihm an seiner Seite stand. Er war stämmig gebaut und hatte goldrotes Haar, Sommersprossen und leuchtend graue Augen. »Henry«, flüsterte sie fast ungläubig. »Henry?«
»Mutter.« Henry kniete vor ihr nieder.
Matilda konnte ihn nur fassungslos anstarren. Sie wollte sich bücken und den kleinen Jungen hoch in die Luft schwingen, den sie einst in der Normandie zurückgelassen hatte, doch nun stand ein anderes, älteres Kind vor ihr, selbständig, gereift und fast schon auf der Schwelle zum Mann. Es war, als hätte sie einen kostbaren Gegenstand für eine Weile beiseitegelegt und müsste nun feststellen, dass er sich von Grund auf verändert hatte. Alle Emotionen, die sie während ihres Kampfes um das nackte Überleben und ihrer Bemühungen, nicht endgültig die Hoffnung zu verlieren, mit aller Kraft unterdrückt hatte, drohten, jetzt an die Oberfläche zu drängen und sie zu überwältigen. Ihr Kinn und ihre Lippen bebten vor Anstrengung, sich zu beherrschen. Sie musste ihr Ansehen wahren und durfte sich nicht vor ihrem Sohn gehen lassen. Die Umstehenden warfen ihr schon erstaunte Blicke zu.
»Nicht weinen, Mama.« Henry sah sie unsicher an. »Jetzt bin ich ja hier. Alles ist gut. Ich werde dich beschützen.«
Sie versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, aber diesmal gelang es ihr nicht. »Ich bin so froh, dich zu sehen«, schluchzte sie. »Lord FitzCount wird dir deine Kammer zeigen. Ich komme später zu dir, dann können wir reden.«
Henry blinzelte kurz, dann besann er sich auf seine Manieren und seine männliche Würde und verbeugte sich erneut vor ihr. Als er sich aufrichtete, schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln.
»Kommt, Sire.« Brian musterte Matilda besorgt, rettete die Situation aber geschickt. »Für Euch und Lord Gloucester ist eine schöne Kammer hergerichtet worden, direkt oben neben der Brustwehr.«
»Kann ich auch die Verliese sehen? Und die Waffenkammer?« Freudige Erregung schwang in Henrys Stimme mit. An gesichts weit interessanterer Männerangelegenheiten verlor das Wiedersehen mit seiner Mutter bereits an Bedeutung.
»Ihr könnt die ganze Burg besichtigen, ich zeige Euch, wo sich alles befindet, und beantworte alle Fragen, aber erst gehen wir in Eure Kammer«, erwiderte Brian. »Gebt Eurer Mutter ein wenig Zeit für sich.«
Nachdem Brian mit Henry und Robert hinausgegangen war, gestattete Matilda Maude und den Zofen, sie in ihre Kammer zu geleiten. Aber dort angekommen scheuchte sie die Frauen voller Wut über ihre eigene Schwäche hinaus, legte sich auf das Bett und zog die Vorhänge zu. Lieber Gott, dachte sie. Was für ein Beispiel habe ich meinem Sohn gegeben? Sie schlang die Arme um ein Kissen, presste es mit den Fäusten gegen ihren Körper und versuchte die Krämpfe einzudämmen, die sie schüttelten, als die Erinnerungen in ihr aufstiegen. Alles, was sie hinter dem Schutzpanzer der Kaiserin verschlossen hatte, strömte jetzt aus ihr heraus. Die Flucht aus Winchester, der halsbrecherische Ritt, die Verfolger, die furchtbare Angst, gefangen genommen zu werden. Die gefährliche Kletterpartie in der bitterkalten Nacht in Oxford, die gähnende schwarze Tiefe und die Todesangst. Der intime Moment mit Brian, vor dem sie zurückgeschreckt war und dessen Trost sie sich selbst versagt hatte. Die Flut widersprüchlicher Emotionen, die beim Anblick des so erwachsen gewordenen Henry über sie hinweggerollt war, hatte den Damm gebrochen und die Kaiserin plötzlich in eine Mutter, in einen ganz normalen Menschen verwandelt. Aber Henry durfte sie auf keinen Fall in diesem Zustand sehen. Er sollte sie nicht für schwach halten.
Endlich ließ das krampfartige Schluchzen nach, und sie fühlte sich wie die Überlebende eines Schiffsunglücks, die erschöpft an den Strand gespült
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