Die Hueterin der Krone
worden war. Matilda blieb noch eine Weile auf dem Bett liegen, brachte aber schließlich die Kraft auf, aufzustehen und sich das Gesicht zu waschen. Dann trank sie einen Becher Wein und rief die Frauen in die Kammer zurück.
»Geht es Euch besser, Herrin?«, fragte Maude.
»Ja, danke«, erwiderte Matilda steif. »Ich habe meinen Sohn über drei Jahre lang nicht gesehen. Kein Wunder, dass mich seine unerwartete Ankunft aus der Fassung gebracht hat.« Sie zog ihren Rubinring vom Mittelfinger und reichte ihn einem Kammerherrn. »Bringt ihn Lord Henry«, befahl sie. »Sagt ihm, ich käme später zu ihm, um mit ihm zu sprechen, aber ich würde ihm diesen Ring aus tiefster mütterlicher Liebe schicken.« Der Mann verbeugte sich und verschwand.
Henry betrachtete den Ring. Er war ihm viel zu groß, deshalb trug er ihn an einem dünnen Goldband um den Hals. Der Rubin war so groß wie sein Daumen und leuchtete wie ein dunkelroter Blutstropfen. Er war ein standesgemäßes Geschenk für einen König, kein billiger Tand, wie ihn gewöhnliche Edelmänner erhielten. Henry wollte ihn zu einem Teil seiner königlichen Insignien machen, wenn er den Thron bestieg, und dieser Tag würde bald kommen. Schließlich war er deshalb hier – um seine Ausbildung zu beenden und vor Ort zu lernen, was er als König von England wissen musste. Er selbst sah sich bereits als der ungekrönte Herrscher dieses Landes. Seine Mutter hatte mit Hilfe seines Onkels Robert ihr Möglichstes getan, aber sie war eben nur eine Frau, wohingegen er zu einem Mann heranwuchs – wenn auch für seinen Geschmack zu langsam. Dass sie in seiner Gegenwart geweint und sich hatte zurückziehen müssen, war beunruhigend gewesen, aber so waren Frauen nun einmal. Seine Augen hatten gleichfalls gebrannt, aber er hatte nicht geweint, denn er war ein Mann, und es gab keinen Grund zu weinen.
Wallingford Castle faszinierte ihn, und nachdem man ihm seine Kammer und seine Schlafstätte gezeigt hatte, hatte er darauf gebrannt, in der Festung umherzustreifen und alle Ecken und Winkel zu erkunden. Er besichtigte den Zwinger und freundete sich sofort mit einigen Hunden an, was ihm das Wohlwollen von Brian FitzCounts Frau Lady Maude eintrug. Sie tätschelte seinen Kopf und sagte, wenn er wolle, könne er sich einen Welpen aussuchen und bei seiner Abreise mitnehmen. Henry war hocherfreut gewesen. Ein Welpe war nicht ganz so wertvoll wie dieser Ring, aber die Geschenke, mit denen er überhäuft wurde, steigerten seine freudige Erregung noch. Vasallen pflegten ihren Lehnsherren oft Falken oder Hunde als Tribut zu entrichten. Er war auch in die großen Lagerschuppen und unterirdischen Gewölbe geführt worden, wo Vorräte für eine jahrelange Belagerung aufbewahrt wurden. Beim Anblick der Stockfischballen verzog er angewidert das Gesicht. Stockfisch gehörte zu den Torturen der Fastenzeit und war in Belagerungszeiten eines der Hauptnahrungsmittel, obwohl viel Wasser benötigt wurde, um das Zeug einzuweichen.
»Wie lange kann die Burg im Ernstfall einer Belagerung standhalten?«, fragte er Brian und seinen Onkel, die die Vorräte inspizierten.
»So lange, wie der Feind uns zu belagern beabsichtigt, Sire«, erwiderte Brian.
»Wie lange kann das sein?«
»Das kommt darauf an. Tage, Wochen oder Monate, aber sie würden vermutlich vorher versuchen, eine Bresche in die Mauern zu schlagen.«
Henry runzelte nachdenklich die Stirn. »Wird Stephen Mama nach Wallingford folgen?«
Sein Onkel schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Er hat sich zu viel zugemutet, und das bei seiner körperlichen Verfassung.« Er zerzauste Henrys rotgoldene Locken. »Du brauchst keine Angst zu haben, mein Sohn.«
»Ich habe keine Angst. Ich will gegen ihn kämpfen. Die Krone gehört mir!« Henry registrierte gekränkt, dass die Erwachsenen sich über seinen Kopf hinweg einen belustigten Blick zuwarfen.
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte sein Onkel Robert. »Erst musst du noch viel mehr lernen und in dein Kettenhemd hineinwachsen, hmm?«
Das traf zu, aber der Eifer, der in ihm brodelte, ließ sich kaum eindämmen. Er wollte jetzt etwas unternehmen, nicht erst in einigen Jahren.
»Ich habe deinem Vater versprochen, für deine Sicherheit zu sorgen, und das werde ich auch tun. Du wirst in Bristol untergebracht und lernst dort, was ein König wissen muss, um klug und gerecht zu herrschen.«
Henry schob den Ring in seine Tunika zurück. Stein und Metall fühlten sich einen Moment lang kalt an, nahmen dann
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