Die Hueterin der Krone
»Aber trotzdem müssen Entscheidungen getroffen werden.«
In dieser Nacht fand Matilda kaum Schlaf. Im Lager herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Kundschafter trafen im Laternenschein ein und brachen wieder auf. Die Männer machten an den Feuern Musik, tranken, erzählten Geschichten und wurden immer lauter. Handgreifliche Streitereien brachen aus und wurden von den Kommandanten zumeist mit Fäusten und Peitschen geschlichtet. Die Verwundeten stöhnten auf ihren Pritschen. Einige starben. Das Feuer in der niedergebrannten Kirche erlosch, bis nur noch Glut übrig blieb, aber der Rauchgestank hing weiterhin in der Luft. Matilda sah einige Male nach Geoffrey, aber der Arzt hatte ihm Mohnsirup eingeflößt, um seine Schmerzen zu lindern, und er lag in einem tiefen Drogenschlaf. Viele Truppenmitglieder litten an blutigem Durchfall, und auch William Talvas hatte sich angesteckt und sich leise wimmernd in sein Zelt zurückgezogen. Kurz vor dem Morgengrauen gab Matilda den Versuch auf, doch noch einzuschlafen, und besuchte mit vor Erschöpfung verklebten Augen die Messe. Im Morgenlicht sah die Lage auch nicht rosiger aus, und immer mehr Männer erkrankten. Ohne Geoffrey als Befehlshaber war der Feldzug zum Scheitern verurteilt.
Matilda ging nach der Messe zu ihm und fand ihn wach auf seinem Bett sitzend vor. Er hatte große Schmerzen und äußerst schlechte Laune.
»Der Feldzug muss bis zum Frühjahr ausgesetzt werden«, knurrte er. »Ich kann die Truppen nicht befehligen, Talvas hat die Ruhr, und William of Aquitaine mangelt es an Autorität. Wenn wir jetzt weitermachen, wird alles in einer Katastrophe enden. Wir haben einige Erfolge zu verbuchen. Belassen wir es vorerst dabei.«
Sie war versucht, mit dem Schürhaken auf seinen verletzten Fuß einzuschlagen. »Du gibst also nach zwei Wochen schon auf?«, fauchte sie. »Werden sich deine Verbündeten denn bereitfinden, mit dir im Frühjahr wieder in den Kampf zu ziehen? Wir haben das alles von so langer Hand geplant, und jetzt ziehst du den Schwanz ein und läufst davon wie ein geprügelter Hund?«
»Ich laufe nirgendwohin«, entgegnete er aufgebracht. »Und ich lasse nicht zu, dass du Zweifel an meinem Mut säst. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten. Siehst du das denn nicht ein? Pah! Natürlich siehst du das nicht ein, denn du bist ja wie immer blind und verbohrt, wenn dir irgendetwas nicht passt. Wenn wir in diesem Zustand weiter vorstoßen, sind wir sogar mit der Verstärkung aus Argentan dem Untergang geweiht. Mein Gott, du hirnloses Frauenzimmer, wir werden auf dem Schlachtfeld vernichtet, und dann gibt es keinen Frühjahrsfeldzug, kein Herzogtum und kein England für uns! Ist es das, was du willst?«
Matilda starrte ihn an. Sie wusste, dass er Recht hatte, aber sie war immer noch wütend und krank vor Enttäuschung. Wenn im Lager die Ruhr herrschte, bestand die Gefahr, dass auch Geoffrey ihr erlag, und obwohl sie ihm keine Liebe entgegenbrachte, brauchte sie ihn, und die Jungen ebenfalls. Aber nicht so. Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber an der Tür stehen. »Was soll ich unseren Söhnen in Argentan denn von ihrem ruhmreichen Vater ausrichten?«
Seine Augen wurden schmal. »Du brauchst keine Botschaften von mir zu übermitteln. Ich werde so bald wie möglich zu Besuch kommen und selbst mit ihnen sprechen.« Seine Stimme wurde etwas weicher. »Sag Henry, dass ich mit ihm ausreite, wenn ich wieder da bin. Und sag den Kleinen, dass ich sie in meine Gebete einschließe – auch wenn sie noch zu jung sind, um das zu verstehen. Das Baby … sieht es so aus wie ich?«
Ihr erster Impuls bestand darin, die Frage zu verneinen, um ihn zu treffen, aber das entsprach nicht der Wahrheit, und die Wahrheit ging ihr über alles. »Er hat mein Haar und deine Augen«, erwiderte sie, »und er entwickelt sich prächtig.« Nachdem sie gegangen war, musste sie sich einen Moment lang in einer Ecke verbergen, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Es kostete sie eine solche Anstrengung, als versuche sie, mit eiskalten Fingern ein Gewand zuzuschnüren, aber es gelang ihr, und als sie die große Halle betrat, strahlte sie majestätische Würde und Entschlusskraft aus, und niemand sah ihr an, wie nahe sie den Tränen war. Sie konnte sich die Weichheit einer Frau nicht leisten. In dieser Männerwelt brauchte sie das Herz und die Kraft eines Mannes.
24
Normandie, Mai 1137
Will D’Albini überreichte der Frau als Lohn für den Stapel Hemden und Hosen, den
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