Die Hueterin der Krone
Staatstracht offiziellen Anlässen beizuwohnen, und sie wurde nicht aufgefordert, den Hof zu besuchen. Danach hatte sie ohnehin kein Verlangen, weil sich dort nach Henrys Tod alles geändert hatte. All die eindrucksvolle Macht war dahin, und ohne eine feste Hand konnten die einzelnen Parteien ungehindert Zwietracht säen und Unruhe stiften. Alles, wofür Henry gearbeitet hatte, war niedergerissen und durch etwas weniger Robustes und Wahrhaftes ersetzt worden. Die Reichtümer strömten aus den Schatztruhen wie Blut aus einer offenen Ader, und niemand tat etwas, um es zu stillen. Jeder strebte danach, sich seinen Anteil zu sichern. Waleran de Meulan stolzierte wie ein prahlerischer Hahn durch die Hofkorridore, Henry of Winchester trat auf, als wäre er bereits Erzbischof von Canterbury. Hugh Bigod platzte fast, so wichtig kam er sich vor, und wartete darauf, dass Stephen sich ihm gegenüber noch großzügiger zeigte und ihm eine Grafschaft zusprach. Immer wieder ließ er unverblümt die Bemerkung fallen, dass er die letzten Worte des alten Königs gehört hatte, mit denen er die Lords von ihrem Matilda geleisteten Eid entband.
In ihrer Halle brannte ein helles Feuer im Kamin, und Melisande, ihre Verwandte und Dienerin, hatte einen Krug mit Frühlingsblumen auf die Bank in der Nähe des Fensters gestellt. Ein angenehmer Weihrauchduft erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Geruch der warmen kleinen Brotlaibe, die in einem Korb lagen. Adeliza reichte der Zofe Juliana ihren Umhang und strich ihr Kleid glatt. Sie war froh, wieder in ihrem Heim zu sein, fühlte sich zugleich aber ein wenig schuldig und durcheinander. Hier war das Leben sicher, behaglich und überschaubar, aber manchmal kam es ihr vor wie ein bequemes Schlupfloch. Sie drehte sich zu dem Krug mit Blumen um und berührte sacht die Blüten.
»Madam, Ihr habt Besuch«, verkündete ihr Haushofmeister Rothard von der Schwelle her. »Messire William D’Albini wartet in der Gästekammer.«
Der Name überraschte sie und brachte sie ein wenig aus der Fassung. Sie hatte Will seit Henrys Beerdigung nicht mehr gesehen und konnte sich nicht vorstellen, was ihn hierhergeführt hatte. »Hat er gesagt, warum er hier ist?«
»Nein, Madam, nur dass er Euch seine Aufwartung machen will.«
»Dann führ ihn herein.«
Rothard verschwand. Verwirrt und neugierig wies Adeliza Juliana an, die silbernen Weinbecher aus dem Schrank zu holen. Melisande klopfte die Kissen auf der Kaminbank auf und legte noch ein Scheit auf das Feuer.
Als Will D’Albini den Raum betrat, schien er ihn mit einer so robusten maskulinen Vitalität zu erfüllen, dass es Adeliza, die sich an das Leben unter Nonnen gewöhnt hatte, den Atem verschlug.
»Madam, meine Königin.« Er nahm seinen Hut ab, sank vor ihr auf die Knie und senkte den Kopf. Sein Haar war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte: eine Masse dichter, schimmernder, dunkler Locken.
»Dieser Titel steht mir nicht mehr zu«, berichtigte sie ihn und bedeutete ihm, sich zu erheben. »Aber ich danke Euch trotzdem, es war sehr galant von Euch.«
Er stand auf. »Madam, für mich werdet Ihr immer eine Königin sein.« Adeliza trat einen Schritt zurück, damit sie sich nicht so verrenken musste. Das durch das Fenster fallende Licht betonte die Farbe seiner Augen und die grünen Sprenkel rund um die Pupillen; und enthüllte, dass er bis zu den Ohrenspitzen rot angelaufen war. »Setzt Euch bitte.« Sie wies auf die Bank. »Darf ich Euch Wein anbieten?«
Er lächelte verlegen, als er Platz nahm. »Eigentlich sollte ich Euch bedienen.«
»Ganz und gar nicht. Ihr und Euer Vater mögt ja Mundschenke des Königs gewesen sein, aber hier seid Ihr mein Gast, und ich freue mich über Euren Besuch.« Sie reichte ihm den größeren Silberbecher, der dennoch in seiner Hand fast verschwand. »Was führt Euch nach Wilton?«
Seine Röte vertiefte sich. »Ich war mit dem König in Winchester, und Wilton liegt in der Nähe. Ein Sergeant meiner Familie starb vor kurzem an der Lepra, und ich wollte einem Leprahaus Almosen zukommen lassen. Außerdem habe ich die Absicht, selbst ein Leprahospital zu gründen und wollte Euch deswegen um Rat fragen.«
»Wirklich?« Seine Aufmerksamkeit wärmte ihr Herz. »Ich müsste wissen, wie groß die Einrichtung sein soll und ob Ihr sowohl Männer als auch Frauen aufnehmen wollt.«
Sie sprachen eine Weile über seine Pläne, und Adeliza stellte fest, dass sie die Unterhaltung genoss. Es war ein Thema, über das sie
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