Die Hüterin der Quelle
ungewöhnlich einsilbig gewesen war. »Gar nichts mehr?«
Selina nickte knapp. »Manchmal stirbt man auch. Wenn sie einen zu fest an sich drückt …«
Jetzt weinte Lenchen.
»Hör auf!« Lenz war aufgesprungen, packte ihren Arm und schüttelte sie. »Siehst du denn nicht, dass sie vor Angst fast stirbt? Sie ist doch noch so klein, Selina. Du darfst sie nicht erschrecken!«
Er bückte sich zu Lenchen. Schluchzend klammerte sie sich an ihn. Er hob sie auf, trug sie herum. Auf ihrem schmalen Rücken sah seine braune Hand groß und schützend aus, fast schon erwachsen. Das Gefühl der Scham, das bei diesem Anblick Selina durchflutete, war noch schwieriger zu ertragen als die Hitze zuvor.
»Aber es stimmt!«, sagte sie heftig. Hoffentlich überschlug sich ihre Stimme jetzt nicht, so aufgeregt war sie auf einmal! »Ich hab es nicht erfunden. Ihr könnt Schneider fragen, wenn ihr wollt. Das ist der Mann, der …«
Lenz’ Blick traf sie mit solcher Schärfe, dass sie verstummte.
»Mir ist schlecht«, sagte Toni und presste sich die Hand vor den Mund. »Ich muss raus.«
»Nimm Lenchen mit«, befahl Kuni. »Ich glaube, die hat für heute auch genug.«
Lenz ließ die Kleine runter, die sofort nach Tonis Hand griff. Der Junge lief so schnell zur Leiter, dass er sie fast mitschleifen musste.
»Und ihr?«, sagte Selina. »Was ist mit euch?«
Eigentlich meinte sie nur Lenz. Wieso kapierte Kuni nicht und verschwand endlich?
»Wir warten noch auf Kaspar. Lenz lässt seinen kleinen Bruder nie allein.« Kuni hielt ihren Becher wieder unter den Zapfhahn, leicht schwankend, wie Selina registrierte. »Gar nicht so übel, dein Geheimnis! Ich könnte mich direkt daran gewöhnen.« Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund.
»Kaspar?«, rief Lenz ins Dunkel. »Wo bleibst du denn? Antworte gefälligst!«
»Der kann dich doch nicht hören«, sagte Kuni.
»Dann werd ich ihn eben suchen.« Nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, zog Lenz mit einem Talglicht los.
»Auf das alles bildest du dir wohl mächtig was ein, was?« Kunis Gesicht war auf einmal ganz nah, und jetzt war jeder Anflug von Freundlichkeit daraus verschwunden. »Auf deine Buchstaben und dein Bier. Von mir aus! Aber ihn hast du nicht.« Ihr Kinn wies in die Richtung, in der Lenz verschwunden war. »Und du wirst ihn auch nie kriegen. Soll ich dir sagen, warum? Weil wir nämlich zusammengehören. Für immer. Merk dir das!«
»Heißt das, ihr wollt nicht mehr in den Felsenkeller kommen?« , fragte Selina. Und wenn Simon doch Recht hätte, mit allem, was er über die Bande gesagt hatte? Sie vermisste ihn so sehr. Warum war er nicht hier, um ihr jetzt zu helfen?
Die beiden Brüder kamen gemeinsam zurück.
Lachend zeigte Kuni ihre spitzen Katzenzähne.
»Wieso denn nicht? Wo wir jetzt doch wissen, wo dein Schatz liegt und wie wir uns ganz einfach bedienen können?«
Dann stakste sie steifbeinig in Richtung Ausgang.
Selina wandte ihr Gesicht zur Seite, als die Brüder an ihr vorbeigingen. Lenz sollte nicht sehen, dass ihre Augen feucht geworden waren.
An einen Baum gestützt, kotzte Toni das Bier aus, bis nur noch grüne Galle kam.
»Bleib mir vom Leib.« Mühsam hob er den Kopf, als Lenchen sich ihm nähern wollte. »Ich glaub, ich sterbe gleich.«
Sie blieb stehen, zupfte an den Wollfäden, die aus ihrem Umschlagtuch hingen. »Aber mir ist kalt. Und Hunger hab ich auch.«
»Dann geh zu Ava. Den Weg kennst du. Die hat bestimmt etwas für dich.«
»Ich will aber nicht allein.«
»Dann warte. Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Es war nicht nur das Bier, das in seinen Eingeweiden rumorte. Schon seit dem Morgengrauen fühlte Toni sich, als hätte er ein Bleigewicht verschluckt. Er hatte die Frau beim Graben beobachtet. Jetzt wusste er, dass wirklich Druten in der Langen Gasse hausten, wie der schwarze Prediger es gesagt hatte. Allein diese Gewissheit war schon schwer genug zu ertragen. Aber sie zog noch eine Reihe weiterer Fragen nach sich. Gehörte Selina auch zu ihnen? Hatte sie die Bande deshalb in die Unterwelt geführt? Um sie dort früher oder später der Steinernen Frau zu opfern?
Lenchen schien unschlüssig geworden zu sein. Sie machte ein paar Schritte, schließlich lief sie los. Den Stephansberg hinunter, zum Fluss, wo sie sich viel wohler fühlte.
Das war der Moment, auf den Lorenz Eichler gewartet hatte, seit er dem Mädchen folgte. Er trat hinter der alten Eiche hervor und verstellte ihr den Weg.
Sie erschrak, als sie ihn sah, blieb aber
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