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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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sein Kinn mit der Kerbe in der Mitte nicht länger spitz, waren die Wangen nicht mehr fest? Vielleicht lag es daran, dass die Talgfunzeln, die sie ringsumher aufgestellt hatten, rußten und widerlich in den Augen brannten.
    Selina schüttelte sich, versuchte, die ungewohnte Schwere aus den Gliedern zu vertreiben, doch es misslang. Ihre Beine fühlten sich weich wie Grütze an, die Finger waren taub. Ihr war kalt, trotz des Wolltuchs um die Schultern. Für ihren Geschmack waren sie bereits viel zu lange hier, aber keiner von Kunis Bande machte Anstalten, den Felsenkeller wieder zu verlassen.
    Als ob sie hier zu Hause wären, wo doch ihr allein alles gehörte!
    Nicht einmal der Abstieg in die Dunkelheit war so verlaufen, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte. Natürlich war sie vorangegangen, mit dem Kienspan in der Hand, den Lenz so geschickt mit seinem Feuerstein zum Brennen gebracht hatte, gefolgt von Kuni. Selina spürte ihren warmen Atem im Nacken, so unerträglich nah hielt sie sich, und zweimal trat sie ihr sogar kräftig in die Fersen. Toni, Kaspar und Lenchen schlossen sich an, während Lenz die Nachhut bildete.
    Schlimm war, dass sich für Selina alles in vollkommener Stille vollzog. Die Vorstellung, dass die anderen hinter ihrem Rücken redeten, missfiel ihr. Sie war erleichtert, als sie endlich unten angelangt waren. Hier, zwischen den teils gelben, dann wieder rötlich verlaufenden Sandsteinschichten, fühlte sie sich sicherer. Und als Lenz beim Anzapfen den Lieblingsklöppel ihres Vaters fast ein Dutzend Mal schwingen musste, bis ihm endlich der Anstich gelang, und ihm dabei eine Bierfontäne Hemd und Hose nässte, musste sie aus ganzem Herzen lachen.
    Doch dann entglitten ihr die Dinge.
    Lenz und Kuni stürzten sich geradezu auf das Bier, gierig, als hätten sie seit Tagen nichts mehr zu trinken bekommen, und sogar Toni hielt zunächst tapfer mit, während Kaspar sich bald zu langweilen begann. Er packte eine der Talgfunzeln und begann damit kreuz und quer in den Gängen herumzulaufen. Lenchen folgte ihm wie ein Schatten.
    »Ihr müsst vorsichtig sein«, warnte Selina, als die beiden zwischendrin wieder zu ihnen zurückkehrten, »diese Stollen sind endlos lang und uneben. Wenn ihr irgendwo hinfallt und euer Licht ausgeht, wird niemand euch mehr finden.«
    »Lang und uneben«, äffte Kaspar sie nach, »uneben und lang« – und war schon wieder halb um die nächste Ecke verschwunden, während Lenchen eingeschüchtert stehen blieb und sich damit begnügte, ihm großäugig und stumm hinterherzuschauen.
    Kuni hatte sich neben Lenz gesetzt, erst in einigem Abstand, dann war sie immer näher gerückt, und inzwischen klebte sie geradezu an ihm. Er hatte seine Flöte zur Seite gelegt, auf der er zuvor gespielt hatte, und wenn Selina auch nichts davon hören konnte, so hatten ihr doch die Bewegungen seiner schlanken Finger auf dem Holz gefallen.
    Was ihr jetzt allerdings sehr viel weniger gefiel, war Kunis Hand mit den abgebissenen Nägeln, die auf einmal auf seinem Schenkel lag, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Kuni drehte den Kopf zu Lenz. Ihre Lippen bewegten sich sanft, und auch Lenz, der sich ihr zugewandt hatte, schien etwas zu sagen.
    Selina verstand nichts davon. Die altbekannte Hitze erfüllte sie wieder, die alles verbrennen konnte. Und als ihr Blick auf die Kleine fiel, die unruhig herumrutschte, verschmolz sie auf hässliche Weise mit dem Schmerz, der seit dem Verrat des Vaters Tag und Nacht in ihr wütete.
    »Habt ihr eigentlich schon einmal von der Steinernen Frau gehört?«, sagte sie.
    »Nein. Wer soll das sein?« Endlich sah Lenz wieder sie an. Und er war zu ihrer Genugtuung auch gleich ein gutes Stück von Kuni abgerückt.
    »Ein Geist«, sagte Selina. »Jemand, der schon vor langer Zeit gestorben ist. Jetzt geht sie hier unten um, irgendwo in diesen dunklen Gängen.« Sie stockte. Plötzlich wusste sie nicht mehr genau, was der Braugeselle gesagt hatte. Aber deshalb aufhören? Niemals! »Sie kann Stollen zum Einstürzen bringen. Sie macht das Haar weiß über Nacht. Und jeder, der sie berührt, wird auf der Stelle taub.«
    Sie hätte sich denken können, dass Kuni ausgerechnet an dieser Stelle kichern musste, und sie hasste sie dafür nur noch mehr. Doch bei der Kleinen hatte sie offenbar ins Schwarze getroffen. Lenchen war erblasst, die dunklen Augen starrten sie furchtsam an.
    »Dann kann man nichts mehr hören, so wie du?«, sagte Toni, der bislang ebenfalls

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