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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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stehen.
    »Lenchen!« Er verzog seinen Mund zu einem Lächeln. »Schön, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«
    »Gut«, sagte sie. »Ich muss zu Ava.«
    »Aber zuvor muss ich noch ein paar Worte mit dir reden.« Seine Augen flogen über ihren Hals. Er kam ihm schmutziger vor und noch dünner als in seiner Erinnerung, aber da war das Mal. Unübersehbar. Gleich in Größe und Form. Als hätte der Teufel ein und denselben Stempel zweimal auf menschliches Fleisch gedrückt. Was sollte er sagen? Sie sah so klein und verfroren aus, dass er fast Mitleid bekam. »Wie heißt eigentlich deine Mutter, Lenchen?«
    »Sie ist im Himmel.«
    »Deine Mutter ist tot?«
    Lenchen nickte. Begann sie jetzt zu weinen?
    Er redete schnell weiter.
    »Und bevor sie gestorben ist, ich meine, was hat sie da gemacht? Wo hat sie gearbeitet?«
    »Wir waren im Badehaus, Mutter und ich.« Die Kleine verzog den Mund. »Aber da war es nicht schön.«
    Eine Badereiberin? Nein, das passte nicht in sein Bild!
    »Wo ist denn dein rotes Häubchen?«, fragte er.
    Die Kleine starrte ihn an. Mit den hellen Haaren, die ihren Kopf umschmiegten, erinnerte sie ihn an irgendein Tier, aber ihm fiel nicht ein, an welches.
    »Mein Häubchen«, wiederholte sie weinerlich. »Ich hab es verloren. Und wenn es sich nun die Steinerne Frau holt?«
    Mit dem Unsinn, den sie brabbelte, konnte er nichts anfangen. Er musste es anders versuchen. Aber wie? Sein Hirn kam ihm vor wie leer gefegt. Dann fiel sein Blick auf den Rosenkranz, der aus ihrem verrutschten Umschlagtuch hervorlugte.
    Der zweite Beweis, wenn es dessen überhaupt noch bedurft hätte!
    Weshalb mühte er sich hier mit irgendwelchen Phrasen ab? Lorenz Eichler packte ihr Handgelenk.
    »Weißt du was, Lenchen«, sagte er, »am besten kommst du jetzt erst einmal mit mir …«
    Sie dachte nicht daran, sondern wand sich und brüllte los.
    Eichler verstärkte seinen Griff. Lenchen ihr Geschrei. Er spürte, dass er wütend wurde. Wenn sie nicht sofort damit aufhörte, würde er sie sich einfach über die Schulter werfen und wie einen Sack …
    Plötzlich standen der große Blondschopf vor ihm, das zerzauste Mädchen und noch ein zweites, dunkelhaariges, das er sofort erkannte – die taube Tochter des Krippenschnitzers, der er im Frühling für gutes Geld ein blaues Leinenkleid genäht hatte! Aber was machte die hier, bei diesem Lumpenpack?
    »Lass sie los«, sagte Lenz drohend. »Sofort. Sonst kannst du was erleben.«
    Der Tonfall verriet, wie ernst es ihm war. Nach einem Blick in das blasse, entschlossene Gesicht drehte Eichler sich um und suchte mit seinen knirschenden Knien eiligst das Weite.
    »Was wollte der Mann von dir?«, sagte Kuni.
    »Er hat uns schon mal aufgelauert«, sagte Toni an ihrer Stelle. »Vor dem Dom. Vor einer ganzen Weile. Damals, als mich der …« Er biss sich auf die Zunge. Das Wort »Teufel« würde er in Kunis Gegenwart nicht mehr in den Mund nehmen, das hatte er sich geschworen.
    »Hat er dir etwas getan?« Lenz beugte sich über Lenchen. »Sag es mir! Tut dir etwas weh?«
    »Nein«, brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor. »Er hat nach meiner Mutter gefragt, aber mein Häubchen … Ich hab mein Häubchen verloren, Lenz!«
    »Nach deiner Mutter?«, sagte Lenz verwundert. »Hast du ihn denn gekannt?«
    Lenchen schüttelte den Kopf.
    »Mein Häubchen«, greinte sie. »Im Keller. Ich will mein Häubchen!«
    »Du sollst dein Häubchen wiederbekommen«, sagte Lenz. »Beruhig dich erst einmal. Das kriegen wir schon hin. Kuni, was ist? Gehst du es mit ihr holen? Wir anderen wollen schon mal voraus zu Ava und später nach Hause, zur Mühle.«
    Kuni verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Das soll die Taube machen«, sagte sie. »Ist ja schließlich ihr Keller.« Sie drehte sich halb um. »Es sei denn, sie hat Angst, so ganz allein, ohne dich …«
    Selina warf ihr einen bitterbösen Blick zu und schwieg.
    »Bitte, Selina«, sagte Lenz. »Lenchen hängt so sehr daran. Hilfst du ihr?«
    Das Knäuel aus Wut, Schmerz und Rache in ihrer Brust schwoll an, während er sie freundlich ansah, bis es sie fast erstickte. Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?, hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, egal, ob ihre Stimme dabei kippte oder nicht. Sie ist der Bankert meines Vaters – und ich hasse sie.
    Selina schluckte, unfähig, einen Ton herauszubringen, dann nickte sie.
    »Aber mit ihr allein will ich nicht.« Lenchen drückte ihr Gesicht an seine Beine. »Sie redet immer

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