Die Hüterin der Quelle
Leben.
Als hätte Reka ihre Gedanken gespürt, kam er auf sie zu und stupste sie mit der Schnauze an.
»Ich träume schon am helllichten Tag«, sagte Ava und versuchte, die bösen Gedanken zu verscheuchen. »So weit ist es mit mir gekommen. Das willst du mir doch sagen, oder? Gut, dass du mich aufweckst, Reka! Der Ofen muss dringend ausgeräumt werden.«
Der Otter rieb sich an ihrer Wade.
Sie bückte sich, um ihn zu streicheln, und merkte, dass ihre Augen dabei feucht wurden.
Ein böser Traum. Etwas, aus dem man aufwacht und heilfroh ist, es hinter sich zu lassen. Selina begann zu zittern, konnte nicht mehr damit aufhören. Der Felsenkeller war zu. Verschlossen und verriegelt. Sie vermochte es kaum zu fassen, als sie im fahlen Morgennebel davorstand.
Etwas hatte sie hierher getrieben, etwas, das auf ihren Schultern lastete und wie ein Alb auf ihrer Brust gesessen hatte, die ganze Nacht. Lenchen ist längst wieder bei den anderen, hatte sie den Weg bergauf unablässig wiederholt. Wahrscheinlich wacht sie gerade auf, Seite an Seite mit Lenz, in ihrer kalten Mühle. Oder sie ist wieder bei ihrer Mutter. Warum lässt die Otterfrau sie überhaupt mit den anderen Kindern herumziehen, anstatt sie bei sich zu behalten?
Doch die Bilder, die sie so verzweifelt heraufbeschwören wollte, blieben blass. Real dagegen war dieses Schloss vor ihr, das sie niemals zuvor gesehen hatte, doppelt gesichert durch die schwere Eisenkette.
Der nonno!
Für einen Augenblick wurde Selina so heiß, dass sie Angst hatte, auf der Stelle zu verbrennen. Vielleicht war ihm der Verlust des Schlüssels aufgefallen, und er hatte sie eine Zeit lang gewähren lassen, um zu sehen, was sie vorhatte. Dann aber war es ihm zu viel geworden, und er hatte gehandelt – auf seine Weise.
Was sollte sie tun? Zu ihm laufen und alles gestehen?
Vielleicht hatte Lenchen das ja längst getan. Es gehörte nicht viel dazu, die Kleine zum Reden zu bringen. Dann wusste der nonno bereits, dass sie, Selina, die Bettelkinder heimlich in seinen Keller geführt und sein Bier gestohlen hatte. Vielleicht wusste er sogar, wer das Mädchen mit dem roten Häubchen in Wirklichkeit war. Aber wäre er dann nicht schon gestern bei ihnen in der Langen Gasse erschienen, hätte seine Tochter Marie in Kenntnis gesetzt und gleichzeitig sie zur Rechenschaft gezogen?
Selina spürte, wie sie wieder ruhiger wurde.
Nein, es musste anders gewesen sein. Lenchen war irgendwann nach oben geklettert und zu den anderen Kindern gelaufen, wie sie bereits vermutet hatte, und als der nonno irgendwann später das offene Tor entdeckte, war weit und breit keine Menschenseele mehr zu sehen gewesen. Bierdiebe, hatte er sicherlich gedacht. Trotz all seiner Maßnahmen. Und die Türe vorsichtshalber mit der Eisenkette verschlossen.
Die Erleichterung war groß, aber nicht von langer Dauer. Sie verschwand schnell wieder, als Selina die Glocken hörte, die zur Frühmesse riefen. In früheren Jahren hatten sie gemeinsam an Allerheiligen die Messe besucht und anschließend zur Erinnerung an die Mutter im Dom ein halbes Dutzend Kerzen angezündet. Trotz der Trauer, die sie dabei spürte, hatte sie sich stets behütet und beschützt gefühlt, wenn sie mit Simon und ihrem Vater das Gotteshaus verließ.
Heute war sie allein. Simon war unterwegs, der Vater zwar in Bamberg, aber dennoch unerreichbar. Schuld daran war die Otterfrau mit ihrer Brut, und wenn Lenchen im Keller ein paar schlimme Augenblicke gehabt hatte, dann sollte es sie wirklich nicht kümmern!
Ihre Lippen bewegten sich. Natürlich konnte Selina die eigene Stimme nicht mehr hören, aber innen drin, da hörte sie sich sehr wohl, laut, wohlklingend und deutlich.
Noch einmal fuhr ihre Hand zum Schloss und rüttelte.
Alles blieb, wie es war.
In ihrem Hals begann es fürchterlich zu kratzen. Aber sie würde nicht heulen, später vielleicht, wenn sie in Sicherheit war, doch nicht jetzt. Auch wenn sie ihre Zuflucht verloren hatte und damit den einzigen Trumpf, den sie gegen Kuni in der Hand gehabt hatte.
Selina drehte sich um, lief den Stephansberg wieder hinunter. Es dauerte nicht lange und ihr schmaler Rücken war im Nebel verschwunden.
Maries Stiefkind! Georg Schneider war sich ganz sicher. Die dunklen Locken, die Größe, der Gang. Aber was hatte das taube Mädchen so früh am Morgen am alten Felsenkeller verloren?
Er blieb stehen, sah sich nach allen Seiten um, soweit der Nebel es erlaubte. Womöglich war auch der Braumeister nicht weit.
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