Die Hüterin der Quelle
nachdem die Frau des Krippenschnitzers fort war und sie auch die Kinder weggeschickt hatte, um überall nachzusehen, wo Lenchen noch stecken könnte. Und einen zweiten gleich hinterher. Trotzdem verging eine Weile, bis die Übelkeit verschwand und Ava wieder durchatmen konnte.
Marie an Veits Arm als rechtmäßiges Eheweib über den Kirchweihmarkt stolzieren zu sehen war eine Sache. Ihr in der eigenen Stube gegenüberzusitzen eine ganz andere. Wie anmutig und fein sie war, mit der blassen Haut, den rötlichen Haaren und den hellen Augen, die sie so forschend gemustert hatten, als wollten sie bis auf den Grund ihrer Seele schauen!
Ava blickte an sich hinunter.
Nein, zu sehen war noch nichts. Darin schlug sie wohl ihrer Mutter nach, die erst kurz vor der Geburt des kleinen Bruders so träge und schwer geworden war, dass sie nicht mehr hinter den Tisch gepasst hatte. Als die Erinnerung ihr den Geruch nach Weingeist und Terpentin in die Nase steigen ließ, der die Glasarbeiten stets begleitet hatte, schüttelte sie sich. Sie wollte jetzt nicht an Flint- und Bleiglas denken, nicht an Holzscheite und Quarzsand. Schon gar nicht an Feuer. Sie bewahrte ihr Geheimnis in sich, wie ein Stück schmerzendes Glas unter ihrer Haut.
Ava horchte in sich hinein, aber da war kein schlechtes Gewissen, keine Spur von Schuldgefühlen. Die Sache zwischen Veit und ihr ging nur sie beide etwas an. Etwas hatte sich zwischen ihnen entzündet, eine Flamme, die sie beide erfasst hatte. Dennoch gehörte keiner dem anderen. Jeder von ihnen führte sein eigenes Leben. Das hatte sie vorhin so deutlich gespürt wie selten zuvor.
Jetzt tat es ihr Leid, dass sie an Kirchweih so eifersüchtig reagiert hatte. Stattdessen empfand sie beinahe so etwas wie Mitgefühl für Marie. Denn da war noch etwas anderes in ihrem Blick gewesen, das nichts mit der Sorge um den untreuen Mann zu tun hatte, eine uralte Sehnsucht, die Ava schon in so vielen Frauenaugen gesehen hatte. Marie wünschte sich inbrünstig, was in ihr wuchs – ein Kind. Würde sie eines Tages erfahren, dass Veit als Vater in Frage kam, würde ihr Schmerz nur noch größer werden. Aber sie musste es ja nicht erfahren. Außer Veit und Hanna Hümlin wusste ohnehin niemand, dass sie schwanger war.
Günstig, dass es jetzt Winter wurde und sie monatelang viele Kleiderschichten übereinander tragen konnte. Das würde ihr auch an ihrem neuen Stand am Kranen zugute kommen, wo sie nun ihre Räucherfische anbieten musste. Ihr Unbehagen den Leuten von der Fischerzunft gegenüber war noch immer da. Dabei konnte sie sich über niemanden beschweren. Alle waren ausnehmend freundlich zu ihr, behandelten sie nach dem Verschwinden von Mathis beinahe wie eine ehrbare Witwe. Allen voran schien Bastian Mendel sein schlechtes Gewissen damit beruhigen zu wollen, dass er sie mit frischer Ware geradezu überhäufte.
»Ich will zwar Fische räuchern, aber nicht in Fischen ersticken«, hatte sie protestiert. »Wer soll das alles kaufen, Bastian, nach dem schlechten Sommer und der miesen Ernte? Hast du dir das schon einmal überlegt?«
»Ach, Abnehmer findest du schon! Und mir musst du nur sagen, wenn du etwas brauchst«, hatte er unbeholfen gemurmelt. »Was immer in meiner Macht steht – alles, Ava, damit du es nur weißt!«
Ihr Lächeln erstarb.
Das Verschwinden der Kleinen saß ihr im Gemüt wie ein Spreißel. Niemand löste sich einfach so in Luft auf, am wenigsten ein kleines, ängstliches Mädchen. Sollte sie Veit informieren, dass seine Tochter irgendwie mit im Spiel zu sein schien? Sie hatte Kunis Bande eingeschärft, unbedingt auch bei den Sternens in der Langen Gasse nachzufragen. Wenn Selina etwas darüber wusste, musste sie schnell damit herausrücken.
Ava verwarf die Idee wieder.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, auch ohne ihr Eingreifen. Sie würde ihm nicht verraten, dass Marie hier gewesen war. Falls Veit überhaupt jemals wiederkommen sollte. Die Eröffnung seiner ungewissen Vaterschaft schien ihn tief verunsichert zu haben.
Lenchen! Hatte sie nicht immer wieder gesagt, wie gern sie bei ihr war? Seit die kleinen Ziegen im Stall meckerten, schien sie gar keine Lust mehr zu haben, mit den anderen zu gehen. Und dennoch war es Ava stets lieb gewesen, wenn Lenchen nach einer Weile mit den Größeren abzog. Zu lange war sie es schon gewohnt, tun und lassen zu können, was sie wollte, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Auch etwas, was sich bald verändern würde – wie so vieles in ihrem
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