Die Hüterin der Quelle
Und Pankraz Haller wäre der Letzte, den er bei seinem Vorhaben gebrauchen konnte. Doch zum Glück gab es nirgendwo eine Spur von ihm. Schneiderfasste sich wieder, untersuchte als Erstes das Schloss.
Alles unverändert, wie gestern Abend. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass seine Hand zitterte, als er aufsperrte.
Rasselnd fiel die Kette zu Boden.
Dann flammte der Kienspan auf, und Schneider begann mit dem Abstieg.
Auf der Hälfte der Leiter blieb er stehen, versuchte, mit dem Licht die Dunkelheit zu durchdringen. Ein sinnloses Unterfangen. Er wusste es. Er musste hinunter, bis zur allerletzten Stufe.
Sein Fuß stieß an etwas Weiches, und er erschrak.
Die Steinerne Frau?
Es war der leblose Körper eines kleinen Mädchens mit kurzen, sehr hellen Haaren. Sie lag auf dem Rücken, die dünnen Beinchen seltsam verkrümmt. Die Arme waren weit ausgestreckt, als sei sie zum Fliegen bereit.
Aber sie flog nicht. Sie würde niemals wieder fliegen.
Die geöffneten Augen schienen ihn anzusehen, mahnend, wie eine stumme Aufforderung. Das schmutzige blaue Kleid war auf der Brust zerrissen. Als er sich mit seinem Licht tiefer über sie beugte, sah er, dass sie einen Rosenkranz aus roten Perlen um den Hals trug. Das schwere Kreuz, das am Ende baumelte, war zerbrochen. Überall, wo die Haut hervorblitzte, waren Totenflecken.
Aber da gab es noch etwas anderes, das ihm bei genauerer Betrachtung ins Auge stach: ein seltsames dunkles Mal auf der linken Halsseite, das irgendwie anders aussah.
Teufelshörner, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Das Zeichen Satans!
Georg Schneider spürte die eisige Flamme, die wie ein Messer in seinen Körper fuhr. Langsam hob er seine Hand zur Brust und begann sich zu bekreuzigen, wieder und immer wieder.
Grau schlich der Morgen ins Zimmer. Adam schlief, das Gesicht tief in seinen Mantel gedrückt, der ihm als Kissen diente, die Glieder ausgestreckt. Simon, schon seit längerem wach, betrachtete ihn liebevoll. Als der Schlafende sich bewegte und die Lage veränderte, legte er ihm die Hand auf den Rücken, ließ sie da eine Weile, bis sie sich langsam tiefer bewegte und auf den Hinterbacken zur Ruhe kam.
»Schöne Art, geweckt zu werden«, murmelte Adam. »Weshalb machst du nicht weiter?«
Er drehte sich um und zog Simon an sich. Ein inniger Kuss. Simon glitt tiefer, begann ihn zu liebkosen. Es dauerte eine Weile, bis Adam seinen Rhythmus fand, dann aber begann er sich zu bewegen, die Beine, die Lenden, bis sein ganzer Körper vibrierte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Ausdruck veränderte sich. Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte Simon Sternen, dass Ekstase nur eines der vielen Gesichter des Schmerzes ist.
Doch als Adam nun seinerseits ihn berühren wollte, zog Simon sich zurück.
»Was ist los?« Adam stützte sich auf und betrachtete ihn aufmerksam. »Wir sind doch nicht in Eile. Noch haben wir alle Zeit der Welt.«
Das Wirtshaus zum Roten Ochsen in Forchheim war das komfortabelste seit langem auf ihrer Reise, und dennoch hatte beide Männer schon gestern Abend eine seltsame Befangenheit überkommen. Vielleicht lag es daran, dass ihnen die Blicke der Zecher folgten, als sie gemeinsam die schmale Treppe hinaufstiegen; vielleicht daran, dass der Wirt unter einem fadenscheinigen Vorwand später noch einmal zu ihnen gekommen war und sich auch danach unnötig lang vor ihrer Türe zu schaffen gemacht hatte. Vielleicht aber war tatsächlich Bamberg daran schuld, das sie morgen, spätestens übermorgen erreichen würden.
Simon zog die Decke höher.
»Auf einmal ist alles so real. Solange wir unterwegs waren, gab es nur uns beide, dich und mich. Und den Weg, der noch vor uns lag. Alles war wie ein Traum. Der schönste Traum, den ich jemals hatte.«
»Du hast Lucie bei deiner Aufzählung vergessen«, versuchte Adam zu scherzen, doch als er die bedrückte Miene seines Geliebten sah, wurde er schnell wieder ernst. »Ich hab dich gewarnt, Simon«, sagte er. »Ich wusste, worauf du dich eingelassen hast. Du offenbar nicht.«
»Doch, und ich wollte es«, sagte Simon heftig. »Mehr als alles zuvor in meinem Leben. Mit dir zusammen ist es endlich richtig. Als ob die Dinge plötzlich ihren Platz gefunden hätten.«
»Und das verändert sich, jetzt, wo Bamberg naht?«
Simon schwieg.
»Du hast vorhin wieder im Schlaf geredet«, sagte er schließlich. »Und einmal geschrien, hoch, ganz schrill, wie ein Kind oder ein Tier in Not.«
»Ich weiß«, sagte Adam. »Man hat mir davon
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