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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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genauso wie ihre kostbare Eischale zerbrochen war.
    Avas Gesicht war entspannt. Sie sagte die Wahrheit. Das spürte Marie. Und noch etwas wusste sie plötzlich, so sicher, als ob sie es mit eigenen Augen gesehen hätte: Der Marienkopf trug ihre Züge. Deshalb hielt Veit ihn so sorgsam vor ihr versteckt.
    »Wie heißt sie?«, sagte sie.
    »Ihren Namen hat sie mir nicht verraten«, sagte Ava. »Und selbst wenn, würd ich ihn nicht preisgeben. Was deine Frage betrifft …«
    »Du wirst mir also nicht helfen?«
    Ava stieß ein Lachen aus.
    »Genau dasselbe hat sie auch gesagt. Ich hab sie weggeschickt. Seitdem hasst sie mich.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Es ist einfacher, mich zu hassen als ihn, nicht wahr, weil …«
    Die Tür flog auf, und ein Haufen schmutziger Kinder kam in die Stube, allen voran ein magerer, braunhaariger Junge mit einem verschmitzten Lachen, das augenblicklich erlosch, als er Marie erblickte. Sein Blick bekam etwas Ängstliches.
    »Wo ist Lenchen?«, sagte Toni. »Schläft sie noch?«
    »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Ava.
    »Ist sie denn nicht bei dir?« Lenz schien verblüfft. »Sie muss doch da sein!«
    Ava sah Marie an.
    »Du musst jetzt gehen«, sagte sie. »Die Kinder brauchen mich. Du siehst es ja.«
    Marie erhob sich widerwillig, doch sie folgte der Aufforderung. Etwas, was sie nicht benennen konnte, hinderte sie daran, sich noch einmal umzudrehen. Sie zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Heimweg.
    Ava wandte sich wieder Lenz zu.
    »Ich hab den ganzen Abend auf sie gewartet, wie ich es euch versprochen habe. Aber gekommen ist sie nicht.«
    »Dann muss sie noch bei der Tauben sein«, sagte Kuni. »Aber im Keller sind sie nicht mehr, das ist klar. Vielleicht haben sie sich ja so lieb gewonnen, dass sie gar nicht mehr voneinander lassen können!«
    »Welcher Keller?«, sagte Ava. »Und welche Taube? Wovon redest du, Kuni?«
    »Selina hat uns dort hingebracht, ein Mädchen, das nicht mehr hören kann und es auf Lenz abgesehen hat. Ihr Bier war gar nicht so übel. Aber lausig kalt ist es dort unten!« Das Mädchen zog eine Grimasse.
    »Dort habt ihr Lenchen zum letzten Mal gesehen?«
    »Nein, das war später«, sagte Kaspar. »Draußen. Als es noch hell war. Toni hat gekotzt, und Lenchen hatte ihr Häubchen im Keller verloren. Sie hat geweint, und da hat Lenz gesagt, dass Selina es mit ihr suchen gehen soll.«
    »Und das haben sie dann auch getan?«, fragte Ava.
    »Natürlich«, sagte Kuni. »Was glaubst du denn? Die Taube macht doch alles, was Lenz will. Sie würde sich sogar nackt ausziehen, auf der Stelle, wenn er sie nur …«
    »Halt den Mund!«, sagte Lenz. Seine Augen waren ganz dunkel geworden.
    »Danach habt ihr sie nicht mehr gesehen?«, fragte Ava.
    »Nein.« Die Kinder hatten im Chor geantwortet, alle vier auf einmal.
    »Wo ist dieser Keller? Wir gehen dorthin und sehen nach. Alle zusammen!«
    »Ich fürchte, das können wir uns sparen«, sagte Kuni.
    »Und warum?«
    »Weil wir schon da waren. Wir kommen von dort. Aber da war kein Lenchen. Nirgendwo. Und die Tür, die nach unten führt, war verriegelt und verrammelt.«
    »Ihr redet doch nicht etwa vom Stephansberg?«, sagte Ava. »Dort, wo die Brauer ihr Bier aufbewahren?«
    »Doch«, sagte Lenz. »Genau da waren wir gestern mit Selina. Bei den Fässern ihres nonno . Das heißt Großvater.«
    Toni griff nach Avas Hand.
    »Du hättest die Frau vorhin nicht wegschicken sollen«, sagte er. »Sie hätte uns sicherlich weiterhelfen können.«
    »Wieso? Was hat sie denn damit zu tun?«
    »Eine ganze Menge.« Toni schluckte. »Ich weiß nämlich, wer sie ist.«
    »Das weiß ich auch«, sagte Ava. »Marie Sternen. Die Frau des Krippenschnitzers.«
    »Und Selinas Stiefmutter«, flüsterte Toni. »Die, die mit ihr in der Langen Gasse wohnt.«

    Der Kleine hatte eine schlechte Nacht gehabt, hatte gefiebert, gestrampelt, gegreint und Agnes nur ein paar Augenblicke flüchtigen Schlaf vergönnt. Als es hell wurde, fühlte sie sich so zerschlagen, dass ihr jeder Knochen wehtat.
    Teilnahmslos sah sie zu, wie die Magd die Morgensuppe aufsetzte, hörte das Zanken der großen Mädchen, die sich wegen eines Haarbandes stritten, unterbrochen von Harlans Bass, als er gebratene Eier und Speck verlangte. Die gestrige Euphorie war gänzlich verflogen. Sie war nur noch müde und gereizt.
    »Wieso isst du nichts?« Wenig später am Tisch musterten sie Harlans tief liegende Augen prüfend.
    »Keinen Hunger.« Agnes

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