Die Hüterin der Quelle
Heidmühle anzutreten. Aber bevor sie noch die Türe aufstieß, wusste sie bereits, was sie dort antreffen würde – nichts als Fledermauskötel, Schmutz, Leere.
Nun hatte sie Lenz für immer verloren.
Allein der Gedanke bewirkte, dass sie sich noch elender fühlte. Wie behutsam er Lenchen im Felsenkeller getragen hatte! Wie er ihr untersagt hatte, der Kleinen Angst zu machen. Was er jetzt wohl über sie dachte? Bestimmt hielt er sie für ein Ungeheuer in Menschengestalt!
Das traurige Gesicht von Lenz machte ihm zu schaffen, die hängenden Mundwinkel, die Augen, aus denen jedes Leuchten verschwunden war. Und Avas Worte gingen Toni auch nicht mehr aus dem Sinn.
Was, wenn Selina unschuldig ist?
Vielleicht hätte er die Taube sogar gefragt, hätte er sie irgendwo getroffen, aber er entdeckte sie nirgends. Sooft Selina ihnen früher scheinbar zufällig über den Weg gelaufen war, so unsichtbar machte sie sich jetzt, und in die Lange Gasse, zu ihrem Haus zu gehen, traute er sich nicht.
»Wieso kommst du nicht mit in die Kirche?«, fragte er Lenz, bevor er sich auf den Weg nach St. Martin machte. »Mein neues Lied wird dir gefallen.«
»Ich mach mir nicht viel aus Weihrauch und Gesängen«, murmelte Lenz.
»Es handelt von der Muttergottes. Sie geht durch einen dornigen Wald und trägt ein Kindlein unter dem Herzen …«
»So wie Ava«, unterbrach ihn Lenz.
»So wie Ava«, bekräftigte Toni. »Auch wenn sie nicht mit uns darüber spricht. Warum tut sie das wohl nicht, Lenz? Was meinst du?«
»Ava wird schon wissen, was sie tut.«
Toni nickte. Lenz konnte die Dinge genau auf den Punkt bringen, das mochte er ganz besonders an ihm.
»Meinst du, wir müssen fort, wenn sie es geboren hat?«, fragte er weiter.
»Weiß ich nicht«, sagte Lenz. »Aber es wird ohnehin noch dauern. Bis weit hinein ins Frühjahr, wenn ich richtig liege. Und bis dahin tut sich sicherlich etwas Neues auf.«
»Du kennst dich damit aus? Damit, wie die Kinder kommen, meine ich.«
»Ein wenig.« Zum ersten Mal seit langem lächelte Lenz wieder. »Rechnen kann ich jedenfalls.« Schnell wurde seine Miene wieder düster.
»Sie fehlt dir«, wagte Toni den Vorstoß.
»Wer?«
»Selina. Du vermisst sie. Du sagst nur nichts, weil du Kuni nicht verärgern willst. Hab ich Recht, Lenz?«
»Vor Kuni hab ich keine Angst, merk dir das! Ich mag nur nicht, wenn jemand ungerecht behandelt wird«, sagte Lenz. »Kuni hat Selina noch nie leiden können, schon von Anfang an. Und jetzt gibt sie ihr die Schuld an Lenchens Tod. Aber ich bin nicht davon überzeugt. Wieso hätte Selina so etwas machen sollen? Lenchen hat ihr doch gar nichts getan!«
»Das hat Ava auch gesagt«, sagte Toni. »Dass man sehr vorsichtig sein muss mit dem, was man zu wissen glaubt. Weil es manchmal ganz anders sein kann.«
»Das hat Ava gesagt?«
»Ja. Erst vor ein paar Tagen.« Toni packte die Weidenrute, die er geschnitten und geschält hatte, und hieb damit auf einen Stein. »Vielleicht heißt es ja nichts, dass sie auch in der Langen Gasse wohnt«, fuhr er fort. »Vielleicht hat es ja gar nichts zu bedeuten.«
»Was sollte es schon zu bedeuten haben?« Lenz klang plötzlich interessierter.
»Dass Selina eine Drute ist.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht!«
»Nein«, sagte Toni nach einer Weile. »Inzwischen eigentlich nicht mehr. Denn manche Leute sagen ja auch, dass Lenchen eine Drute gewesen sei. Und das stimmt nun wirklich nicht.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, aber etwas in ihm drängte, weiterzusprechen, es auszusprechen.
»Was ist?«, sagte Lenz. »Wieso bist du auf einmal stumm wie ein Fisch?«
»Du erinnerst dich doch noch an ihr Mal?«
»Klar. Was soll damit sein?«
Sollte er wirklich weiterreden? Lenz war sein Freund, eine Art großer Bruder, und wenn er einem vertrauen konnte, dann ihm.
»Der schwarze Prediger hat das gleiche«, sagte Toni. »Sogar an der gleichen Stelle. Und der ist bestimmt keine Drute – der jagt sie doch!«
»Bist du sicher?«, sagte Lenz.
Toni nickte.
»Ich hab es selber gesehen. Aber verraten darfst du es niemandem. Keiner Menschenseele.«
Er warf die Weidenrute weg. Morgen würde er sich eine neue machen, oder übermorgen. Die Winterabende waren dunkel und langweilig, da war es gut, wenn man etwas zu tun hatte. Sollte er ihm jetzt vom Teufel erzählen? Auch da begannen sich seine Zweifel zu häufen. Der Mann, den er dafür gehalten hatte, schaute ihn jedes Mal so freundlich an, wenn er zum Singen kam. War das
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