Die Hüterin der Quelle
teilte man ihr in seinem Haus mit. Er sei beschäftigt, aber wenn sie etwas warten wolle, fände sich bestimmt ein Augenblick, in dem sie ihr Anliegen vortragen könne. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich erschien, die Hände voller Tintenflecken.
»Apollonia, ja«, sagte er zerstreut, als ob er sich erst jetzt daran erinnere, wer sie überhaupt sei. »Was führt dich zu mir? Neuigkeiten? Dann schnell heraus damit! Meine Zeit ist knapp bemessen.«
»Das Buch«, sagte sie. »Ihr wisst doch, was ich meine?«
»Das Buch? Ja, natürlich. Haller hat es mir gegeben. Sonst noch was?«
»Was ist mit der versprochenen Belohnung?«
»Wofür?« Kilian Haag starrte sie verblüfft an.
»Für das Buch«, wiederholte sie.
»Für ein Gebetbüchlein, wie man es überall kaufen kann? Das ist dreist! Ich hab mich schon gefragt, was diese seltsame Botschaft zu bedeuten hat. Vielleicht kannst du es mir ja jetzt erklären.«
Etwas Kaltes griff nach ihr, etwas, das sie schwindeln machte.
»Da war ein Zettel in dem Buch«, sagte sie. »Ein Brief, nehme ich an. Ihr habt ihn nicht gefunden?«
»Nichts war drin.« Haag schüttelte den Kopf. »Gar nichts! Ich hab es mehrmals durchgeblättert und sogar ausgeschüttelt, weil ich dachte, dass etwas darin versteckt sein müsse. Aber da war nichts, Apollonia!«
»Aber ich hab ihn doch selber in der Hand gehalten. Er war da. Ich weiß es!«
Kilian Haag runzelte die Stirn.
»Ich hole das Buch. Dann können wir uns gemeinsam davon überzeugen, dass nichts drin ist.«
Mit ein paar Schritten war er durch die Tür, und eigentlich ahnte sie schon, was geschehen würde, bevor er zurückkam und ihr das Gebetbuch in die Hand drückte. Apollonia feuchtete ihren Zeigefinger an und blätterte es durch, Seite für Seite.
Ohne Ergebnis.
»Und wenn Ihr ihn einfach rausgenommen habt?«, sagte sie schließlich mit hochrotem Kopf. »Weil Ihr Euch meine Belohnung sparen wollt.« Sie holte tief Luft. »Ich bin eine arme Frau, und es war ausgemacht, dass ich sie bekommen soll, wenn ich Euch etwas vom Weihbischof bringe. Und das hier ist etwas! Meinen Hals hab ich dafür riskiert.«
»Für ein altes Gebetbuch? Ich hätte dich für klüger gehalten, Apollonia! Bring es wieder zurück – damit ist uns wirklich nicht gedient! Und jetzt geh! Ich hab zu tun.«
Sie bewegte sich nicht.
»Meine Belohnung«, wiederholte sie. »Auf der Stelle! Und wenn Ihr nicht bezahlt, dann werd ich Euch verraten.«
Kilian Haag schien für einen Moment nach draußen zu lauschen. Dann griff er in seine Hosentasche und zog ein Silberstück heraus.
»Da!«, sagte er und drückte es ihr in die Hand. »Steck es ein, und lass es damit genug sein. Ich will dich nicht weiter in Versuchung führen. Und wenn mich jemand fragen sollte, so hab ich niemals im Leben auch nur ein Wort mit dir gewechselt.«
Etwas hatte ihn geweckt, ein zutiefst vertrautes Geräusch, das er aber nicht hatte zuordnen können. Jetzt war es verstummt, und das ganze Haus lag wieder still, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Veit Sternen starrte in die Dunkelheit. Printenduft lag in der Luft, die die Göhlerin und Marie heute gebacken hatten. Sein Herz schlug überlaut; jegliche Müdigkeit war wie weggeblasen. Marie, die gleichmäßig neben ihm atmete, schien tief zu schlafen. Wie konnte sie Ruhe finden? Ihm saß die Angst unter der Haut wie scharfe Spitzen.
Wie lange würden sie Selina noch schonen?
Schlimm genug, dass die Büttel sie abholten und wie eine Verbrecherin hinauf zum Domberg führten. Klapperdürr war sie geworden unter ihren dicken Winterkleidern, so lustlos stocherte sie im Essen herum. Kaum ein Wort drang aus ihrem Mund, und wenn sie überhaupt redete, dann klang es so unbeholfen, dass er erst recht fürchten musste, die Häscher würden es gegen sie richten.
Natürlich hatte er alles versucht, überall herumgefragt, nach Zeugen und Entlastungsmaterial für Selina gesucht. Sogar beim Fürstbischof war er vorstellig geworden, um für sein Kind zu bitten. Aber Fuchs von Dornheim hatte ihn kaum ausreden lassen, stattdessen von den großartigen Fähigkeiten seiner Herren Hexenkommissäre geplaudert, um schließlich auf die Fertigstellung der Krippe zu kommen. Das war das Einzige, was ihn interessierte: lebloses Holz – keine Menschen aus Fleisch und Blut.
Diese leidigen Figuren!
Inzwischen war Veits heimlicher Zorn auf sie so gewaltig, dass er sie am liebsten mit einem Fußtritt in die Ecke befördert hätte. Gestern war ein
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