Die Hüterin der Quelle
Adam«, sagte sie. »Seinetwegen.«
Lenchen war immer bei ihr, im Wachen, im Schlafen, bei jeder Bewegung, sogar wenn sie den Atem anhielt. Es fühlte sich an, als sei sie ihr tief unter die Haut gekrochen, habe sich eingenistet in ihrem Körper. Wenn Selina die Nase an ihren Arm presste, roch sie wieder die Kleine, ihren flachen, leicht säuerlichen Duft. Es kam ihr vor, als sei sie selber geschrumpft und gleichzeitig härter dabei geworden. Und manchmal, wenn sie ihren Kopf berührte, spürte sie keine weichen Locken mehr, sondern widerspenstige Stoppeln, auf denen ein rotes Häubchen saß.
Anfangs hatte sich Selina dagegen gewehrt, hatte Weidenruten zu einem Kummerbesen geflochten und ihn heimlich vor dem Hauptaltar im Dom abgelegt, in der Hoffnung, dadurch befreit zu werden. »Du bist tot!«, sagte sie. »Hau ab – und lass mich endlich in Ruhe!«
Inzwischen wusste sie, dass es sinnlos war. Lenchen war ein Teil ihrer selbst geworden und schuld daran, dass Selina eine unsichtbare Mauer von den Menschen trennte, die sie bisher geliebt hatte. Am deutlichsten spürte Selina das, wenn Simon mit ihr sprach.
»Du musst mir die Wahrheit sagen, Selina! Nur so kann ich dir vielleicht helfen. Was hast du mit der Kleinen im Keller angestellt? Was hattet ihr beide dort überhaupt zu suchen?«
Sie sah, wie sein Mund sich bewegte, aber seine Worte erreichten nicht mehr ihr Herz. Sollte sie ihm von dem roten Häubchen erzählen, das sie gesucht hatten, oder von den hässlichen Gedanken, gegen die sie sich nicht wehren konnte? Sollte sie ihm sagen, dass sie nur mitgegangen war, um Lenz nicht zu enttäuschen und vor Kuni das Gesicht zu wahren? Er würde ihr ohnehin nicht glauben, das wusste sie und blieb deshalb lieber stumm.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du dich von diesen schmutzigen kleinen Bettlern fern halten sollst. Immer wieder hab ich dich gewarnt. Warum hast du nicht auf mich gehört?«
»Ich weiß es nicht, Simon«, war alles, was sie schließlich herausbrachte. »Quäl mich nicht!«
Er wandte sich ab, und Selina tat es weh, dass ihretwegen seine Freude verblasst war, jenes geheimnisvolle innere Strahlen, mit dem er aus Italien zurückgekehrt war. Früher hätte sie den Grund dafür längst ausspioniert, wäre dem großen Bruder so lange gefolgt, bis sie Bescheid gewusst hätte. Jetzt aber vergrub sie sich im Haus und bangte vor der drohenden Strafe. Ihrer gerechten Strafe, wie sie zu wissen glaubte. Denn hätte sie Lenchen nicht allein im Keller zurückgelassen, wäre der Bankert ihres Vaters noch am Leben.
Natürlich wuchs ihre Angst, wenn die Büttel sie in die Alte Hofstatt brachten. Vernommen wurde sie in einem kleinen Raum im Erdgeschoss, nicht im Keller, wo die peinlichen Befragungen durchgeführt wurden. Körperlich tat man ihr kein Leid an, noch nicht , wie der Malefizkommissar dünnlippig zu versichern pflegte, aber die endlosen Verhöre waren auch so qualvoll genug.
Alles wäre noch unerträglicher gewesen, hätte nicht Pater Thies, dessen kluge, hellbraune Augen sie so zwingend ansehen konnten, die Fragen gestellt. Er bemühte sich, deutlich zu sprechen, ganz im Unterschied zu dem anderen, der zum Glück nur manchmal auftauchte, dann aber keifend im Raum auf und ab ging und nicht kapieren wollte, dass sie nur dann von den Lippen lesen konnte, wenn man sich ihr zuwandte. Zudem trank er; das hatte sie schnell gemerkt, nicht nur, weil er nach Fusel stank, sondern allein schon an seinen fahrigen Gesten.
Vasoldt hasste sie. Vielleicht, weil sie taub war, vielleicht, weil er ihre Schuld riechen konnte so wie sie seinen Schnaps. Vielleicht aber auch, weil Pankraz Haller ihr nonno war. Vasoldts gelbes Gesicht wurde noch grimmiger, sobald die Rede auf ihn kam, und Selina biss sich auf die Lippen, um nicht ein Wort zu viel zu sagen. Daran konnte nicht einmal der Weihbischof etwas ändern, der nur einmal dazwischengefahren war, wie ein magerer, schwarzer Geist, und sie zutiefst erschreckt hatte.
Aber auch vom nonno trennten sie jene unsichtbaren Nebelwände, die sich immer enger um sie schlossen. Sie hatte ihn hintergangen, belogen und enttäuscht, und obwohl er behauptete, er habe ihr verziehen, glaubte sie ihm nicht.
Wie denn auch?
Er hätte ihr niemals vergeben, hätte er die ganze Wahrheit gewusst: dass sie schuld war am Tod Lenchens, ihrer Halbschwester.
Selina hätte es herausschreien mögen, aber dazu fehlte ihr der Mut. Einmal nur besaß sie die Kraft, sich aufzuraffen und den Weg zur
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