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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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starrte ihn an.
    »Befiehlst du mir das als ein Soldat Gottes?«, brachte er schließlich hervor.
    »Nein, darum bitte ich dich als Freund und Lehrer«, erwiderte Josef Grün. »Als alter Lehrer übrigens, der manchmal angesichts der gesammelten Torheit der Welt schon sehr müde geworden ist.«

    Mitten im Schnitzen hielt Simon plötzlich inne. Das Klopfen an der Tür wurde stärker. Er legte sein Werkzeug beiseite und öffnete.
    »Ihr?«, sagte er überrascht. »Um diese Zeit?«
    »Ich schlafe sehr schlecht«, sagte Damian Keller. »Und Ihr offenbar auch, wie ich sehe.« Seine Augen glitten neugierig durch den Raum. »Wo ist sie denn, die Krippe?«, sagte er. »Schon alles fertig?«
    »Nebenan«, sagte Simon. »Beinahe. Bis auf ein paar Kleinigkeiten.«
    »Dann werdet Ihr den Zeitplan einhalten?«
    »Veit und Simon Sternen halten immer ein, was sie zugesagt haben«, sagte Simon. »Die Krippe wird zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert.«
    »Ich dürfte sie nicht vorab schon mal anschauen?«
    »Keinesfalls«, sagte Simon. »Das würde Unglück bringen. Wir Schnitzer sind ein sehr abergläubisches Volk.« Er versuchte, aus Kellers Miene zu lesen. »Schickt Euch der Fürstbischof?«
    »Fuchs von Dornheim? Nein, bewahre, der hat keine Ahnung, dass ich hier bin.«
    »Und weshalb seid Ihr hier?«
    »Nennt es Neugierde, wenn Ihr wollt«, sagte der Astrologe. »Nennt es Besorgnis oder auch Mitgefühl. Nichts davon wäre ganz falsch, nichts davon ganz richtig. Mir liegt Euer Schicksal am Herzen, so könnte man es vielleicht am besten ausdrücken.«
    »Weshalb?«
    »Weshalb, weshalb! Ihr seid ein äußerst kritischer junger Mann, Simon Sternen. Vielleicht, weil ich mich innerlich vor großem Talent verneige? Vielleicht, weil mir die Geburt des Herrn als das wunderbarste aller Geheimnisse erscheint? Vielleicht, weil Ihr einen Freund gebrauchen könnt in diesen schwierigen Zeiten?«
    Ihre Blicke trafen sich. Dann wandte sich der Astrologe der halbfertigen Marienskulptur zu.
    »Sie ist wunderschön«, sagte er. »Zart und kraftvoll zugleich.«
    »Das ist nur eine Arbeit für mich selber«, sagte Simon schnell. »Für den Hausgebrauch, sozusagen. Nicht für fremde Augen bestimmt.« Seine Hand zuckte, aber sie jetzt noch zu bedecken wäre sinnlos gewesen.
    »Was für eine Vergeudung! Ihr dürft sie uns nicht vorenthalten, ihr Gesicht, den weichen Mund, die großen Augen. Sie wirkt so jung, so unschuldig, fast ein wenig erstaunt …«
    »Maria war jung und unschuldig«, sagte Simon. »Und natürlich hat sie gestaunt, als der Engel kam und ihr die Geburt Jesu verkündete. Selbst jetzt, wo sie den Herrn der Welt geboren hat, lebt noch viel von diesem Staunen in ihr. Deshalb hab ich ihr auch das Gesicht meiner Schwester Selina gegeben. Selina ist taub. Sie kann nur mit dem Herzen hören.«
    Er räusperte sich, als hätte er schon zu viel gesagt. Ein Blick zu den heruntergebrannten Kerzen. Wieder einmal hatte er über dem Schnitzen die Zeit vergessen. Er wollte Adam nicht länger warten lassen. Die nächtlichen Stunden mit ihm waren alles, wofür er lebte.
    »Ich möchte jetzt weiterarbeiten«, sagte er. »Oder habt Ihr noch andere Anliegen?«
    »Nein«, sagte Keller. Er zog ein Leinentuch heraus, schnäuzte sich ausführlich.
    »Aus Euch wird ein großer Künstler, Simon Sternen«, sagte er. »Das kann man jetzt schon deutlich sehen. Eines Tages werden alle Euren Namen kennen – weit über die Grenzen Bambergs hinaus. Ich muss nicht einmal meine Sterne befragen, um Euch das schon jetzt zu prophezeien.«
    »Was wird, das soll die Zukunft entscheiden«, sagte Simon. »Im Augenblick zählt nur, was ist. Ich bin Krippenschnitzer – nicht mehr und nicht weniger.«

    Die Krähen warteten auf Agnes. Sehen konnte sie sie nicht mehr, aber hören, und ihre heiseren Rufe verfolgten sie bis in den Schlaf. Wenn das Licht schwand, war es am schlimmsten. Es kroch ohnehin erst sehr spät ins Loch und wurde viel zu früh wieder trüb, bis es irgendwann ganz erlosch.
    Dann senkte sich Dunkelheit über sie, rabenschwarze Nacht, die alle Dämonen lebendig werden ließ. Manchmal sah sie ihre Kinder vor sich, die großen Mädchen, die weinend die Hände nach ihr ausstreckten, oder den kleinen Harlan, über und über mit gefährlichen Pusteln bedeckt. Dann vergaß sie alle Vernunft, rüttelte an den Stäben und schrie, bis ihre Stimme brach.
    Die dünnen Suppen, die man ihr brachte, und das harte Brot waren die einzige Unterbrechung im trostlosen

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