Die Hüterin der Quelle
Die Kleine mit dem roten Häubchen – ich wünschte, ich hätte sie öfter zum Lachen bringen können!« Sie fasste ihr Gegenüber scharf ins Auge. »Was willst du, Hanna?«, sagte sie. »Weshalb bist du hier?«
»Deswegen.« Die Besucherin zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus dem Mieder und hielt es Ava hin. »Lies!«
Avas Augen flogen über die Zeilen. Die Schrift war unregelmäßig, die Tinte an einigen Stellen verschmiert oder verlaufen. Überrascht zog sie die Brauen zusammen.
»Du musst laut lesen«, sagte Hanna. »Damit ich es auch verstehe.«
Ich hab sie Magdalena genannt, denn sie ist ein Kind der Sünde. Dein Blut fließt in ihren Adern, und sie trägt dein Mal, die braunen Teufelshörner, die du an deinem Hals hast. Ich weiß nicht, warum Gott sie so gezeichnet hat. Ich muss es hinnehmen. Wir brauchen dringend Geld. Das, was du mir gegeben hast, ist längst aufgebraucht. Wir hungern und wir frieren, und die Arbeit in der Badstub hab ich immer gehasst, denn ich bin keine Hur, niemals gewesen. Jetzt kann ich sie ohnehin nicht mehr tun, denn ich bin krank und huste Blut, und niemand will sich mehr von mir anfassen lassen. Wenn du uns nicht hilfst, F., müssen wir verrecken. Gib uns Geld, nicht zu wenig, sonst werd ich alles, was geschehen ist, früher oder später öffentlich bekannt machen müssen …
Ava ließ den Zettel sinken.
»Der Rest ist kaum noch zu entziffern«, sagte sie. »Aber da steht ohnehin nichts Wichtiges mehr, nur noch ein paar ungelenke Drohungen. Woher hast du das?«
»Das spielt im Augenblick keine Rolle«, sagte Hanna.
Ava schaute wieder auf die Zeilen.
»Ich glaub, ich weiß sogar, von wem das stammt«, sagte sie.
»Was glaubst du?«
»Von Lenchens Mutter. Du weißt schon, das Kind, das man tot im Felsenkeller gefunden hat.«
»Viele Leute halten sie für eine Drute – so ein kleines, armes Ding! Wie sie nur darauf verfallen können? Aber sie fangen schon wieder damit an, Ava! Als sei das Schreckliche, was man damals meiner Mutter und anderen angetan hat, nicht mehr als genug!«
»Ich hab sie Magdalena genannt – und Lenchen, das passt doch! Außerdem ist von einem Mal die Rede. Lenchen hat sehr darunter gelitten, hat es für Teufelshörner gehalten, bis ich ihr gesagt habe, dass sie den Mond am Hals trägt.«
»Dann läuft hier in der Stadt der dazu passende Vater herum, der ebenfalls solch ein Mal hat. Aber wir wissen nicht, wer er ist.«
»Nein«, sagte Ava. »Wir wissen nur, dass er nicht unvermögend ist. Und dass er offenbar ein großes Interesse daran hat, dass niemand von seiner Vaterschaft erfährt.« Sie faltete den Brief zusammen. »Hier!«
»Nein.« Hanna schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du ihn behältst. Das Kind hat bei dir gelebt. Dann ist auch der Brief seiner Mutter gut bei dir aufgehoben.«
»Hast du Angst, Hanna?«, sagte Ava. »Fühlst du dich beim Braumeister nicht mehr sicher?« Unwillkürlich suchten ihre Augen nach dem Bernsteinherz, aber Hannas Hals war nackt.
»Es kommt näher«, sagte Hanna. »Immer näher. Die Blicke der Leute, das Gerede – ja, ich habe Angst. Dabei hatte ich so sehr gehofft, es sei für immer vorbei. Aber das ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Alles beginnt wieder von vorn. Als ob wir jemandem schaden würden! Wir huldigen doch nur der Natur, der Erde, die uns trägt und nährt. Mehr nicht.«
»Angst schützt uns, hat meine Mutter immer gesagt. Angst ist oft gar nicht so verkehrt. Du bist doch vorsichtig, Hanna? Ihr seid doch vorsichtig bei euren nächtlichen …«
»Sei still«, sagte Hanna. »Am besten, man redet nicht darüber. Nicht einmal hier.« Sie schlang sich das Tuch um die Schultern und stand auf. »Neuigkeiten von Mathis?«, sagte sie, schon halb im Gehen.
»Neulich hab ich ihn im Traum gesehen«, sagte Ava. »Er hat mir vergnügt zugewinkt. Beim Aufwachen musste ich weinen, so lebendig war er.«
»Männer wie Mathis bleiben immer lebendig.« Hanna kam zurück, um noch einmal kurz Avas Bauch zu berühren. »Pass auf euch beide auf!«
»Und du auf dich«, sagte Ava.
Dann trug sie den Brief in ihre neue Schlafkammer.
»Wir werden verlieren, Adam, wenn wir nicht aufpassen. Der Feind ist in der Übermacht. Er wird uns besiegen.«
Niemals hatte Adam Josef Grün so ernst gesehen. Der alte Jesuit sah aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen, die Wangen eingefallen, das Gesicht faltig und bleich.
»Bislang hab ich Förner gut im Griff«, sagte Adam. »Es hilft, dass ich den
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