Die Hüterin der Quelle
wegschicken. Und sie würde sich noch überflüssiger vorkommen.
War es wert, das zu riskieren?
Sie konnte nicht anders. Seit mehr als zwei Wochen hatte sie Lenz nicht gesehen und schon befürchtet, er und die anderen Kinder hätten Bamberg für immer den Rücken gekehrt, jetzt, wo im Rat nahezu täglich neue Verordnungen gegen das Betteln erlassen wurden. Manche sperrte man ins Loch, andere wurden mit Stöcken aus der Stadt gejagt. Pankraz hatte Simon ausführlich darüber berichtet, und ihrem großen Bruder wiederum war es ein besonderes Anliegen, ihr alles haarklein weiterzugeben und drastisch auszumalen.
Aber nicht Simon, sondern Marie hatte ihr schließlich den entscheidenden Hinweis gegeben, ausgerechnet Marie!
»Kurz ist mit der neuen Steinmühle sehr zufrieden«, sagte sie, als sie mit Theres Göhlerzurückkam. Beide schwitzten, weil der Tag heiß war, der Holzkarren unhandlich und die Säcke prall. Nicht nur ihre Kleider, auch die Haare waren staubig. Natürlich hätte Selina sie begleiten und ihnen helfen können, aber sie hatte es wieder einmal verstanden, sich im passenden Moment unsichtbar zu machen. »Sein Mehl ist so fein und weiß wie sonst bei keinem. Nur etwas weit flussaufwärts liegt sie für meinen Geschmack!«
Selina lächelte vielsagend. Mit den roten Wangen, den aufgelösten Haaren und den dunklen Schweißflecken sah Marie aus wie ein ganz gewöhnliches Marktweib. Es gefiel ihr, wenn die zweite Frau ihres Vaters nicht die feine Dame spielen konnte.
Marie warf ihr einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts.
Um das Abladen kam Selina nicht herum, doch sie achtete darauf, dass es ausschließlich leichtere Säcke waren, die sie ins Haus trug.
»Die alte Hechtmühle will er an einen Walker vermieten, aber erst im Herbst.« Durstig trank Marie einen Becher Wasser und reichte der Göhlerin einen anderen. »Für die Zwischenzeit haben sich ein paar Waisenkinder bei ihm eingenistet. Er hat nichts dagegen, solange sie nicht zündeln. Er sagt, auf diese Weise hielten sie sogar Einbrecher ab und noch schlimmeres Volk.«
Sie ließ sich auf die Bank fallen und zog die Schuhe aus.
»Ihr Ehrenwort hätten sie ihm gegeben.« Marie rieb die Füße aneinander. Für ihren zarten Körperbau waren sie zu breit, was Selina immer wieder erfreut registrierte. »Sein Gottvertrauen möchte ich haben! Auf so ein Ehrenwort zu bauen ist ganz schön leichtsinnig.«
Selina tat gleichgültig, innerlich aber jubelte sie. Die Hechtmühle, natürlich – warum war sie nicht eher darauf gekommen! Sie kannte den Holzbau auf der schmalen Insel zwischen den beiden Brücken, den man nur über einen Steg erreichen konnte. Früher hatte sie Simon einige Male dorthin begleitet. Sie würde den Weg auch allein finden.
Selina ging weiter, langsam, fast zögerlich. Schon jetzt schlug ihr Herz schneller als sonst, und sie fürchtete sich vor dem Moment, wo es wieder rasen würde.
Auf der Unteren Brücke blieb sie stehen.
Obwohl sie den Hals reckte, verwehrten ihr Dächer und hohe Bäume den Blick auf die beiden Domtürme. Mehrmals schon war sie am Kaisergrab gewesen. Seite an Seite lagen sie hier bestattet, Heinrich und seine Gattin, Kunigunde, die zur Stadtheiligen geworden war und seit Jahrhunderten Menschen und Häuser vor Bösem beschützte. Das hatte Simon ihr erzählt, und ihr hatte gefallen, was er gesagt hatte, wie fast alle seine Geschichten.
Warum nur musste sie ausgerechnet wie Kuni heißen? Sie lehnte sich ans hölzerne Geländer. Unter ihr glitzerte der Fluss im Sonnenschein. Rechter Hand wurden am Kranen gerade zwei Boote gelöscht. Dahinter erhob sich das Hochzeitshaus, in dem Vater und Marie geheiratet hatten. Selina war zu krank gewesen, um am Fest teilnehmen zu können. Aber bis zu ihrer Gesundung zu warten hatten sie offenbar nicht mehr die Zeit gehabt. Einfach hinter ihrem Rücken die Ringe zu tauschen! Bis heute hatte sie ihm diesen Verrat nicht verziehen.
In ihren schlimmsten Träumen hörte Selina das Fiedeln und Blasen, das Trommeln und Schlagen der Instrumente, Hochzeitsmelodien, die leise begannen, sich dann steigerten, um schließlich in ein ohrenbetäubendes Finale zu münden, als wollten sie ihr Trommelfell zum zweiten Mal verletzen. Dann schoss sie hoch, die Hände auf den Ohren, den Mund zu einem Schrei geöffnet.
Heute war wieder so ein Morgen gewesen. Selina strich ihr Kleid glatt, das neue aus himmelblauem Leinen, das ein enges Mieder hatte und sie erwachsen wirken ließ. Eigentlich hätte
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