Die Hüterin der Quelle
sie es erst zu Simons Geburtstag anziehen sollen, aber sie war so schnell aus dem Haus gelaufen, dass niemand sie hatte aufhalten können. Marie behauptete, die Farbe mache ihre Haare dunkler und ihre Augen strahlender, aber was wusste schon Marie!
Am Gürtel baumelte das bestickte Säckchen, in dem sie Tafel und Kreide vor neugierigen Augen verbarg. Ihre Zierstiche waren lustlos und alles andere als gleichmäßig ausgefallen, dafür konnte sie den großen Knopf mit einer Hand öffnen und schließen.
Der neue Schneider hatte beides genäht, ein kleiner Mann mit schiefen Zähnen, der säuerlich aus dem Mund roch und offenbar ein Angeber war, aber flinke Hände hatte. Lorenz Eichler war sein Name, und er brüstete sich mit all den wichtigen Auftraggebern, für die er in Bamberg schon die Nadel geführt hatte.
»Selbst der Weihbischof lässt bei mir arbeiten!« Er hielt kurz inne, um die Wirkung seiner Worte zu genießen. »Na ja, er hat jedenfalls bei mir arbeiten lassen – und wird es sicherlich wieder tun. Wo sonst sollte er diese Qualität finden, diese Präzision?«
Sie schrie auf, denn er hatte sie gepikst, als er voller Verzückung die Nadeln zu tief in den Stoff des Mieders gesteckt hatte.
»Oh, ich denke, da müssen wir wohl noch etwas Spielraum zugeben!«
Noch jetzt schoss Selina die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie daran dachte. Das ging nur sie etwas an, dieses halb prickelnde, halb beunruhigende Gefühl, wenn sie im Schutz der Nacht vorsichtig mit den Händen über die zarten Erhebungen fuhr. Sie hoffte, sie zeichneten sich nicht zu deutlich unter dem hellen Stoff ab.
Und wünschte im gleichen Moment, sie täten es.
Noch immer in Gedanken ging sie in Richtung Hafen, ohne darauf zu achten, wohin sie trat. Sie stieß gegen eine ältere Frau, die in jeder Hand einen Tonkrug trug. Vor Schreck ließ die Frau einen fallen. Er zerbrach. Dunkle Flüssigkeit lief aus.
»Bist du blind?«, fuhr die Frau sie an. »Und blöd dazu? Wer ersetzt mir nun meinen Wein?«
»Es tut mir Leid«, wollte sie sagen, aber alles, was sie herausbrachte, war dumpfes Krächzen.
Die Frau fuhr zurück, hob die rechte Hand und streckte den Mittelfinger gegen sie. Ein Abwehrzauber. Damit die Taubheit nicht auch auf sie überging. Ihre Lippen öffneten sich. Zwischen fauligen Zähnen prasselte etwas auf Selina nieder. Es mussten Verwünschungen sein, Beleidigungen und Flüche, davon war sie überzeugt, denn das Gesicht der Frau war zur Fratze geronnen.
Verstanden hatte sie nichts davon.
Ihre Beine waren unsicher, als sie weiterlief, bis sie endlich den kleinen Steg erreicht und die Keifende hinter sich gelassen hatte. Etwas Raues kratzte ihr im Hals, und in ihrer Brust tat es weh. Wer taub ist, ist auch dumm. Selina wusste seit langem, dass viele Leute so dachten, und die Reaktion der Frau hatte es ihr es erneut bewiesen. Aber sie war nicht blöd. Sie konnte nur nicht mehr hören – das war alles.
Dennoch saß der Stachel. Sollte sie ihr Vorhaben nicht lieber abbrechen? Etwas Bitteres sammelte sich in ihrem Mund.
Sie war keine Idiotin, und feige war sie erst recht nicht. Selina strich sich das Haar aus dem erhitzten Gesicht und stieß die Türe auf.
Es roch nach Holz, nach Mehl, nach alter, vielfach gewendeter Leinwand. Nach getrockneten Fledermausköteln. Staub flirrte in der Luft. Langsam ging sie weiter. Links von ihr führte eine Tür in den Raum, wo die An- und Ablieferung des Mahlgutes erfolgte.
Ob sie dort steckten?
Wie einfach wäre es jetzt gewesen, wenn sie hätte hören können! Aber nicht einmal rufen mochte sie, aus Angst, die anderen mit ihrer ungeübten Stimme zu verschrecken.
Es blieb nur der Weg nach oben. Selina betrat die Stufen, die ins Obergeschoss führten. Zu gerne hätte sie gewusst, ob ihre Füße das Holz zum Schwingen brachten, aber das würde sie erst erfahren, sobald jemand auf sie reagierte.
Der große Raum war hell. Links lag die Mahlstube. Rechter Hand sah sie ein paar Lumpen, scheinbar nachlässig hingeworfen. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Niemand war zu sehen. Sie war vergeblich gekommen.
Jemand packte von hinten ihren Arm und drehte ihn jäh auf den Rücken. Selina schrie auf. Sie spürte die Wärme eines Körpers. Und die Anspannung, die von ihm ausging.
Plötzlich war sie wieder frei. Sie fuhr herum.
Lenz stand vor ihr, mit nacktem Oberkörper, die Hose halb auf die Hüften gerutscht. Sie sah die Schweißtropfen auf seiner mageren Brust. Und wie das einfallende
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