Die Hüterin der Quelle
Sonnenlicht die blonden Härchen auf seinen Armen zum Leuchten brachte.
Ihr wurde heiß. Auf einmal hasste sie sich für die Idee mit dem Kleid, kam sich aufgeputzt vor und unendlich töricht. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht und konnte doch gleichzeitig nicht aufhören, ihn anzusehen.
»Du? Um ein Haar hätte ich dir eins übergezogen!«
Sie setzte zu sprechen an und hörte mittendrin auf. Seinem Gesicht war anzusehen, dass sie etwas Komisches gesagt haben musste. Selina wollte schon die Tafel herausziehen, um ihre Antwort aufzuschreiben, aber er hinderte sie daran.
»Das brauchst du nicht«, sagte Lenz. »Ich verstehe dich. Und du mich doch auch, oder? Versuch es noch einmal, Selina!«
Der Anfall von Scham verflog so schnell, wie er gekommen war. Mit Lenz war alles einfach. Sie brauchte sich nicht zu verstellen.
»Ich dachte, ihr seid alle fort«, wiederholte sie langsam. Marie hatte Recht – ausnahmsweise. Wenn man die Worte nicht hetzte, waren sie auch keine Feinde. Ihre Hände flogen dabei. Das passierte ihr immer öfter in letzter Zeit. Aber Lenz schien sich nicht daran zu stören. Vielleicht würde er eines Tages sogar deren Sprache verstehen, so wie Simon.
»Fort?« Er schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, wir haben uns nur etwas hier eingerichtet. Aber dann bin ich krank geworden. Muss wohl an dem verschimmelten Brot liegen. Das Einzige, was die Leute noch hergeben.«
»Krank?« Ein Vibrieren lief durch ihre linke Körperhälfte. Unwillkürlich tastete sie wieder nach der Tafel. Plötzlich hatte sie Angst, auch mit dem linken Ohr nichts mehr hören zu können.
Lenz schien ihre Unruhe zu spüren. Er trat auf sie zu, berührte ihren Arm. Durch das Leinen wurde es warm. Es war nicht die glühende Hitze von eben, die einen verbrennen konnte, wenn man nicht aufpasste, sondern eine zarte, heilende Wärme, nach der sie sich schon lange gesehnt hatte.
»Geht schon wieder«, sagte er. »Aber jemand muss doch auf die Kleine aufpassen. Lenchen hat es viel schlimmer erwischt.«
Er deutete auf einen Lumpenhaufen in der hintersten Ecke. Selina entdeckte ein rotes Häubchen, das darunter hervorlugte.
Sie waren nicht allein.
Die Enttäuschung war beinahe so stark wie das vorherige Glücksgefühl, aber sie zwang sich, vernünftig zu sein. Die Kleine spielte keine Rolle. Selbst wenn sie Kuni alles verraten würde.
»Wo sind die anderen?«, fragte sie.
»Wo wohl?« Sein Mund verzog sich.
Beim Betteln, das meinte er. Simon fiel ihr ein und was er über die Bande gesagt hatte. Oder beim Stehlen.
Lenz schien ihre Gedanken zu erraten.
»Was bleibt uns übrig?«, sagte er. »Sollen wir vor Hunger krepieren? Es gibt viele in der Stadt, denen das am liebsten wäre. Aber solange sie uns noch nicht am Kragen haben, können wir immer noch entwischen.«
Er hatte Recht. Simon hätte nur mal sehen sollen, wie armselig sie hier hausten! Dann würde er verstehen, dass sie sich nicht darum kümmern konnten, woher ihr Essen kam.
»Ich hätte etwas mitbringen sollen«, sagte sie. »Von zu Hause. Wir haben mehr als genug. Nächstes Mal werde ich daran denken.«
Er hatte begonnen, nervös auf und ab zu gehen. Wieder erfasste Selina Unruhe. Wenn er ihr den Rücken zudrehte, bekam sie doch nicht mit, ob er etwas sagte! Sie musste seinen Mund sehen, musste sein Auf und Ab konzentriert beobachten, sonst konnte sie ihn nicht verstehen.
Abrupt war er vor ihr stehen geblieben. Seine Lippen lagen aufeinander. Dann öffnete sie ein Lächeln, machte sie weich und ließ sie gleichzeitig verschmitzt aussehen.
»Du kommst also wieder?«
Sie nickte.
»Das Kleid – schönes Blau. Wie deine Augen.«
Plötzlich wagten sie beide nicht mehr, den anderen anzuschauen, und senkten den Blick. Selina fasste als Erste wieder Mut und sah, dass er in die Ecke starrte. Die Kleine hatte sich aufgerichtet, halb aus den Lumpen befreit und gestikulierte.
»Was will sie?«, fragte sie.
»Der Bauch tut ihr weh. Schon seit Tagen. Vielleicht sollte ich sie besser zu Ava bringen. Die hätte bestimmt das passende Kraut.«
Selina folgte ihm, sah zu, wie er dem kleinen Mädchen Wasser einflößte.
»Ava«, murmelte Lenchen. »Mama! Ich will zu Ava.«
»Hast du verstanden, was sie gesagt hat?«, sagte Lenz.
»Nein«, sagte Selina. »Nicht genau. Wer ist …«
»Ava?«
Sie nickte.
»Unsere Freundin«, sagte er. »Sie gibt uns zu essen und lässt uns manchmal bei sich wohnen, in ihrem Haus am Fluss. Sie hat sogar einen zahmen Otter,
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