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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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das Wort an sie. »Gerade noch. Aber er kann seitdem auf dem rechten Ohr nichts mehr hören. Und schlimme Dinge sind ihm widerfahren.«
    »Schlimme Dinge?«, wiederholte sie. Dieser Mann war auf dem gleichen Ohr taub wie sie!
    »Schlimme Dinge.« Er bekreuzigte sich rasch. »Sein Haar ist weiß wie Schnee. Seine Hände zittern. Speichel tropft ihm aus dem Maul. Und er macht kaum noch die Augen zu. Weil ihn Nacht für Nacht die Steinerne Frau besuchen kommt.«
    Mit großen Augen starrte Selina ihn an.
    »Hast du mich verstanden, Mädchen?«, fragte Schneider.
    Sie nickte.
    »Und was macht sie dann, die Steinerne …«
    »Schluss jetzt mit diesem Unsinn!«, befahl Pankraz. »Ich will nichts mehr davon hören. Geh schon mal zurück, Georg. Wir bleiben noch ein Weilchen hier unten.«
    Schneider verzog sich nach oben, während Pankraz und Selina schweigend nebeneinander durch die Stollen liefen.
    Plötzlich blieb sie stehen.
    »Luft«, sagte sie und wandte ihr Gesicht zur Seite. »Irgendwo muss eine Öffnung sein.«
    »Du hast wirklich sehr feine Sinne«, sagte Pankraz überrascht. »Da ist tatsächlich ein Schacht, der nach draußen führt. Er gehört zu dem alten Eingang, von dem wir vorhin geredet haben.«
    Selina nickte abermals, sichtlich befriedigt.
    »Wollen wir zwei jetzt zu den Braukesseln?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie. »Gerne. Aber zuvor hab ich noch zwei Wünsche, nonno .«
    »Dann heraus damit!«
    »Leihst du mir deine schönen Pläne mit all den unterirdischen Gängen?«
    »Wozu? Was willst du denn damit?«
    »Sie abpausen. Das hat Simon mir beigebracht. Ich bin ganz gut darin. Dann kann ich immer, wenn ich später einmal Lust dazu habe, mit dem Finger durch den Bauch der Erde spazieren gehen.«
    »Genehmigt. Und dein zweiter Wunsch, Selina?«
    »Führ mich draußen zu dem alten Eingang, wenn wir fertig sind. Ich möchte genau wissen, wo er liegt.«

    Als es Abend wurde, war Ava allein im Haus. Reka war fort. Die warmen Sommernächte lockten ihn zum Jagen.
    Viele von den Glasleuten hatten zur Erntezeit der Kornmutter gehuldigt, ein Brauch, den die Kirche am liebsten verboten hätte. Aber niemand schien sich darum zu kümmern. Überall an Wegkreuzungen standen plötzlich Brote und Krüge mit Wein. Es gab Früchte, gesüßt mit Honig, man schnitt Kräutersträuße, die später getrocknet wurden, und formte Puppen aus den frisch geernteten Ähren. In manchen Nächten hatte niemand mehr als ein paar Stunden geschlafen, so viel wurde getanzt, gelacht und geliebt.
    Als kleines Mädchen hatte sie die Feiernden beobachtet und sich nichts so sehnlich gewünscht, wie endlich groß zu sein und mitzumachen. Es war nicht mehr dazu gekommen. Die Flucht hatte alles beendet. In Bamberg gab es nichts davon, weder heimliche Opfergaben noch öffentliche Feiern. In manchen Jahren hatte sie nicht einmal mehr an das Fest gedacht.
    Heute aber war es anders.
    Sie spürte einen Sog, die Trauer und die Kargheit, die hinter dem Üppigen lauerten. Der Sommer neigte sich, auch wenn es erst wenig Anzeichen dafür gab. Aber die Früchte reiften, die Nächte wurden wieder länger. Bald würden die Blätter fallen und den Winter ankündigen, die dunkle, ruhige Zeit, in der alles schlief, um neue Kräfte zu sammeln.
    Ihr Körper war hungrig. Es half nichts, unruhig in der Stube auf und ab zu laufen, weil die warme Nachtluft draußen sie nur noch sehnsüchtiger machte. Gemäß der Tradition hatte sie ein rundes Brot gebacken, mit Linien wie Sonnenstrahlen auf der Kruste, und es dick mit Salz bestreut. Aber es gab weit und breit niemanden, mit dem sie es hätte teilen können.
    Ein Pochen an der Tür, und gleich darauf stand Mathis vor ihr.
    Die Erleichterung, ihn endlich wieder zu sehen, war so groß, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre. Er hielt ein Kaninchen an den Läufen gepackt, bereits gehäutet, und legte es auf den Tisch.
    »Keine Fische heute?«, sagte sie.
    »Keine Fische. Ausnahmsweise. Aber dich möchte ich mitnehmen, Ava.«
    »Wohin?« Sie brach ein Stück von dem Brot ab, gab es ihm.
    »Egal, wohin – immer noch besser, als hier allein Trübsal zu blasen, oder nicht?« Er steckte es in den Mund. »Es schmeckt wie du«, sagte er. »Nach Salz und Leben.«
    Sie forschte in seinem Gesicht, ob er es spöttisch meinte, aber seine Augen waren ernst.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Manche deiner Überraschungen gefallen mir womöglich nicht.«
    »Leg das Karnickel in Wein ein, damit es nicht zu stinken

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