Die Hüterin der Quelle
denkst.«
Langsam umrundete sie das Figurenensemble. Die Hirtengruppe war vollständig, mit Schafen, Böcken, Hunden, Hirschen und Rehen. Obwohl die Gesichter noch fehlten, war die Szene lebendig. Wie ein Sternenschweif waren die Anbetenden rund um die Geburtshöhle gruppiert.
»Wer sie sieht, wird neugierig«, sagte Marie. »Die Figuren haben etwas Verheißungsvolles. Und außerdem finde ich gerade bei ihnen die Stoffbeispiele sehr gelungen.« Sie sagte nichts darüber, welche Arbeit es für sie gewesen war, auf die Schnelle die Mäntel und Hirtengewänder zusammenzusticheln.
»Und was ist mit den anderen?«
Ihr Blick glitt zu den Königen, und natürlich verstand sie, was er meinte. Wer einmal Simons Zeichnungen in der Hand gehabt hatte, wollte sich schwerlich zufrieden geben mit den groben Schnitten der bozzetti . Gerade bei den drei Weisen aus dem Morgenland fiel die missglückte Stoffwahl besonders ins Auge.
»Du sagst nichts.« Er fühlte sich bestätigt. »Ich wusste es. Weil du es genauso erbärmlich findest wie ich. Kann man so meine Handschrift erkennen, Marie? Man kann es nicht. Aber genau darauf ist der Fürstbischof erpicht!«
»Ihr müsstet ihm zuerst die Zeichnungen zeigen«, sagte Marie. »Und erklären, dass das andere nur ein Entwurf …«
»Wenn uns dafür keine Zeit bleibt! Es heißt, Dornheim sei aufbrausend, schnell verstimmt. Wenn er nun unsere Krippe schon beim ersten Hinsehen verwirft?«
Simon holte aus, und für einen entsetzlichen Augenblick fürchtete sie, er würde seine Faust mitten in die Figuren schmettern. Aber seine Hand sank kraftlos wieder herab.
»Ich könnte es ihm nicht einmal verdenken. Schau dir doch nur die Heilige Familie an!« Jetzt klang er wirklich verzweifelt. »Am besten sind noch Ochs und Eselin gelungen, aber die anderen! Ein Manteljosef, wie man ihn schon hundertmal gesehen hat. Eine Mariengestalt, so grob geschnitzt, dass man sie nur erahnen kann. Und dieses klumpige Etwas in der Krippe …«
Marie legte ihm die Hand auf den Arm.
»Du bist überarbeitet, Simon. Du brauchst dringend eine Pause, dann wirst du alles wieder mit anderen Augen sehen. Ihr könnt jetzt nichts mehr ändern. Der Entwurf steht – präsentiert ihn so dem Fürstbischof, wie er ist, und hört euch erst einmal an, was er dazu zu sagen hat.« Sie lächelte. »Vielleicht hat er tatsächlich das eine oder andere zu kritisieren. Und wenn schon! Dann bessert ihr eben nach. Ich bin sicher, alles wird gut. Ein wenig solltest du deinem Vater schon vertrauen. Schließlich hat Veit viel Erfahrung!«
Simon wandte sich ab, suchte in einer Kiste nach weichen Lappen.
»Wo steckt er eigentlich?«, fragte er.
»Im Löwen. Mit Harlan Pacher. Die beiden wollten etwas besprechen.«
Wenn es denn wirklich Pacher war – und nicht seine dralle, geile Frau, schoss es ihm durch den Sinn. Simon sah sie an, und Marie gab den Blick zurück, arglos, voller Freundlichkeit.
Manchmal hatte er sie so gern, dass es fast schmerzte.
Wie eine große Schwester war sie für ihn, eine Freundin, manchmal sogar eine Mutter, obwohl nur wenige Jahre sie voneinander trennten. Marie war das Beste, was der Familie Sternen jemals hatte passieren können, davon war er überzeugt. Niemand durfte ihr wehtun. Vor allem nicht Veit. Verletzte sein Vater dieses Gebot, würde er es mit ihm zu tun bekommen.
»Magst du nicht einen kleinen Spaziergang mit mir machen?«, schlug Marie vor. »Die Luft ist so lau. Und du könntest auf andere Gedanken kommen.«
»Nimm lieber Selina mit«, sagte Simon. »Ich hab noch zu tun.«
Selina blieb dem kleinen Mädchen auf der Spur. Lenchen führte sie zur Otterfrau, Lenchen führte sie zu Lenz. Inzwischen war sie wieder zu den anderen in die Mühle zurückgekehrt. Von der Unteren Brücke aus hatte Selina beobachtet, wie sie mit den Größeren das alte Gebäude verlassen und wieder betreten hatte.
Meistens trug sie das rote Häubchen, was es leicht machte, sie auch in dichterem Gedränge zu verfolgen. Toni schien sie zum Betteln anzuleiten. Lenchen wartete neben ihm, bis er auf den Domstufen gesungen hatte. Dann schickte er sie herum, um Münzen einzusammeln.
Und immer war Lenz irgendwo in der Nähe.
Lenz, den sie nur noch aus sicherer Entfernung betrachten konnte. Der ihr Herz noch immer schneller schlagen ließ.
Während Selinas Sehnsucht wuchs, begann eine Idee in ihr zu reifen. Zunächst hatte sie sie vor sich selber als Hirngespinst abgetan, als etwas Verrücktes, das sich niemals
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