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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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umsetzen ließe. Manchmal nahm sie sogar die neue Tafel heraus, die Marie für sie gekauft hatte, ohne über den Verlust der anderen ein Wort zu verlieren, und schrieb ein paar Zeilen. Aber es war nicht mehr wie früher. Ihre Buchstaben wirkten auf einmal wie Gekritzel, beinahe, als ob die neue Tafel ihr den Gehorsam verweigerte. Selina hätte sie am liebsten weggeworfen und sich die alte zurückgeholt, doch wie hätte sie das anstellen sollen? In die Mühle jedenfalls würde sie nie mehr freiwillig einen Fuß setzen.
    Je mehr sie über ihre Idee nachdachte, je öfter sie über den alten Plänen grübelte, die sie Pankraz Haller abgeluchst und anschließend abgepaust hatte, desto zuversichtlicher wurde sie. Das konnte die Lösung sein! Wenn sie die Bande dorthin führte, mussten sie sie endlich als vollwertiges Mitglied aufnehmen.
    Nicht einmal Kuni würde sich dieser Offerte verschließen können. Jetzt galt es nur noch, den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Es schadete nichts, noch ein bisschen zu warten, damit die hässliche Szene zwischen ihnen in Vergessenheit geriet. Andererseits drängte alles in ihr, das Warten so schnell wie möglich zu beenden.
    Aber sie konnte die Zeit benutzen, um weitere Informationen zu sammeln. Pankraz schien mehr als erfreut über ihr Interesse und erteilte bereitwillig jede Auskunft. Auch Marie machte keine Schwierigkeiten mehr, seit sie wusste, dass ihr Vater Selina unter seine Fittiche genommen hatte.
    Die Sache mit dem Felsenkeller lief also, darüber musste sie sich den Kopf nicht weiter zerbrechen. Doch was sie nach wie vor ratlos machte, war die Otterfrau.
    Welche Verbindung gab es zwischen ihr und dem Vater?
    War sie nur eines jener vielen Weiber, die für ihn entbrannt waren? Aber wenn es sich tatsächlich so verhielt, weshalb versuchte sie dann nicht, in Kontakt mit ihm zu treten?
    Selina hatte Ava inzwischen lange genug beobachtet, um zu wissen, dass sie es nicht tat. Andererseits war jene Szene auf dem Markt, die jetzt schon so lange zurücklag, wie eingebrannt in ihr.
    Wie er sie angesehen hatte! Und sein Lächeln!
    Nicht einmal Marie sah er so an.
    Eigentlich hätte diese Beobachtung sie froh stimmen können. Aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil. Marie kannte sie. Sie wusste, was sie von ihr zu halten hatte. Marie stellte keine Bedrohung für ihre Stellung beim Vater dar – sie war einfach nur störend und lästig.
    Die andere aber war ihr fremd. Von ihr wusste sie nichts. Und damit war sie umso gefährlicher.
    Ava musste sie also weiterhin im Visier behalten. Für heute, wo es bereits dämmerte und die Mücken immer emsiger stachen, konnte sie ihren Beobachtungsposten guten Gewissens verlassen. Aber vielleicht musste sie einmal im Schutz der Nacht wiederkommen, um mehr zu erfahren.
    Ihr Bauch sagte ihr, dass es sich lohnte. Bislang hatte dieses Gefühl sie noch niemals getrogen.
    Über kurz oder lang würde die Otterfrau sich verraten. Und Selina endlich erfahren, ob ihre schlimmsten Befürchtungen zutrafen.

    Simon ließ den Lappen sinken. Der penetrante Geruch des Leinöls erfüllte die Werkstatt, und plötzlich wurde ihm übel. Er hatte sich an die Regeln gehalten, die Oberfläche zuerst zart und danach fester überrieben, aber was war das Ergebnis?
    Aus stumpfen bozzetti waren lediglich glänzende bozzetti geworden!
    Er ließ den Lappen fallen, ging zur Hobelbank. Der Größe nach geordnet lag sein Werkzeug vor ihm – verschiedenste Eisen, Geißfüße, Ziehklingen, als hätte alles nur auf ihn gewartet.
    Er wandte sich zum Zeichentisch, schlug die Mappe auf. Das Gesicht des ersten Magiers sah ihn an: Melchiors Greisenantlitz, in dem das Wissen über Freude und Leid eines ganzen Menschenlebens steckte.
    Und dort drüben stand der plumpe bozzetto , ohne Aussage, ohne Charakter!
    Simon hatte schon den Zirkel in der Hand, als ihm bewusst wurde, was er tat. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Die Proportionen hatte er rasch auf das Holz kopiert. Zwei, drei weitere Öllampen anzünden, um es heller zu haben, das war die einzige Unterbrechung, die er sich noch gönnte. Er wählte das passende Eisen aus.
    Die ersten Schläge. Die Späne flogen. Er musste kaum die Zeichnung zu Hilfe nehmen, so präzise arbeiteten seine Hände. Aus dem Holz schälte sich nach und nach Melchiors Gesicht heraus.
    Als er die Hände viel später wieder sinken ließ, rauschte es in seinen Ohren. Er stellte die Figur ab, trat einen Schritt zurück. Jetzt lebte sie, sah wach aus, wissend. Dieser

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