Die Hüterin der Quelle
jetzt wohl gerade machte, seine kleine Schwester, ganz ohne seinen brüderlichen Schutz? Ob sie noch mit diesen Bettelkindern herumzog?
Ein Gedanke, der ihm nicht gefiel.
Da gab es etwas, das ihn beunruhigte, eine Gefahr, die er nur wittern konnte, nicht genauer benennen. Ihm wäre es am liebsten gewesen, die kleinen Strolche wären für immer aus der Stadt verschwunden. Aber wer würde sie schon anderswo aufnehmen? Simon hätte darauf wetten können, dass sie nach wie vor in Bamberg bettelten, wenn nicht noch Übleres taten.
Vielleicht war er Selina trotzdem zu hart angegangen. In ihrer Lage hatte sie wenig Auswahl, was Freundschaften betraf. Viele mieden sie, als fürchteten sie, angesteckt zu werden. Dass die Familie so tat, als sei alles wie früher, war nicht besonders hilfreich dabei. Simon nahm sich vor, mit seinem Vater und Marie darüber zu reden, sobald er wieder zu Hause war. Lange hatte er darauf gehofft, Selina würde sich eines Tages enger an ihre Stiefmutter anschließen und lernen, sie ebenso zu schätzen, wie er es tat, aber inzwischen musste er einsehen, dass sein Wunsch sich wohl nicht erfüllen würde.
So stur konnte seine Schwester sein, so unnachgiebig! Und die Taubheit hatte diese Eigenschaften noch verstärkt. Was sie nicht verstehen wollte, verstand sie einfach nicht.
Simon musste unwillkürlich grinsen, denn im Grunde war es das, was sie beide verband. Keiner von ihnen ruhte, bevor erreicht war, was sie sich vorgenommen hatten.
Er beschleunigte seine Schritte. Lucie brauchte Futter und einen Stall. Und er freute sich nach mehreren kalten Nächten im Freien auf ein warmes Quartier.
Nachdem er im Mohren abgestiegen war und das Pferd versorgt hatte, schlenderte er durch die Gassen. Die Häuser mit den tief gezogenen Dächern und den zahlreichen Gauben erschienen ihm klein. Viele waren bunt bemalt. Schattige Laubengänge lockerten die Bauweise zusätzlich auf. Ab und zu entdeckte er neben einer Türe etwas, das wie ein Zunftzeichen aussah, doch wonach er suchte, fand er nicht.
Die Müdigkeit wurde immer stärker. Seine Beine fühlten sich an, als seien sie mit flüssigem Blei gefüllt. Simon entschloss sich, die Suche zu vertagen. Nach einem deftigen Gericht aus Nudeln und Kraut, das in reichlich Fett schwamm, fiel er ins Bett.
Am nächsten Morgen machte er sich erfrischt auf den Weg. Als er an einer offenen Einfahrt vorbeikam, stieg ihm ein unverwechselbarer Geruch in die Nase. Simon ging hinein und sah sich neugierig um. Ein junger Mann war gerade damit beschäftigt, Holz abzuladen und in einen Schuppen zu tragen.
Im Hof arbeitete ein Älterer an einer Werkbank mit dem Schnitzeisen.
Was sollte er sagen? Während er noch nach Worten suchte, spürte Simon eine grobe Hand auf seiner Schulter.
»Was willst du hier?« Der Mann hatte einen festen Griff.
»Ich bin Simon Sternen, ein Krippenschnitzer aus Bamberg«, sagte er in seinem schönsten Italienisch. »Auf der Durchreise nach Verona. Ich wollte mich ...«
»Wir halten nichts von Fremden. Und von Schnüfflern, die unsere Kunst abkupfern wollen, erst recht nichts.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drängte er ihn hinaus. Das hölzerne Tor schloss sich geräuschvoll.
Verblüfft blieb Simon allein in der Gasse zurück.
Natürlich war er nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er ging weiter, schaute sich noch gründlicher um als zuvor. Aber auch seine nächsten Versuche blieben erfolglos. Zweimal machte man ihm nicht einmal auf, als er an die Türe klopfte, beim dritten Versuch ging ein wütender Hund auf ihn los. Er nahm die Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Erst als er eine Brücke über den Eisack erreichte, gestattete er sich eine Verschnaufpause.
Er brauchte eine ganze Weile, um sich zu erholen. Simon starrte in das schäumende Wasser des Gebirgsflusses und überlegte, wie er es geschickter anstellen könnte.
»Ihr seid fremd hier?«, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich. Der Mann sprach deutsch, als hätte er genau gewusst, wie er Simon anreden sollte. Er war schlicht gekleidet, und seine Füße steckten in abgetragenen Stiefeln.
»Ja«, sagte Simon. »Und dieses Brixen tut alles dazu, damit man sich noch fremder fühlt.«
Der andere lächelte.
»Wer an einer alten Durchgangsroute siedelt, muss sich ein gesundes Maß an Misstrauen bewahren, wenn er überleben will. Die Menschen hier sind nicht wirklich hart. Aber sie tun nach außen so, als wären sie es. Was ist Euer Anliegen?«
Während Simon es ihm
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