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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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zwischen seinen Händen war makellos, genau das Richtige für die jungfräuliche Mutter Jesu. Was sich jedoch herausschälte, als er irgendwann sein Werkzeug erschöpft sinken ließ, waren Avas Züge.
    Ihre Augen, ihr Mund, die kurze, gerade Nase. Der Schwung ihrer Brauen. Die vollen Wangen. Sogar ihr versonnenes Lächeln, wenn sie sich über etwas besonders freute, hatte er eingefangen.
    Er war so in die Betrachtung vertieft, dass er das Klopfen überhört hatte. Erst als die Türe aufging, erwachte er aus seiner Versunkenheit. Blindlings griff er hinter sich und warf ein Tuch über den halbfertigen Kopf.
    »Agnes!«
    »Du bist allein?« Sie spähte nach allen Seiten.
    »Simon ist auf dem Weg nach Italien und Marie ...«
    »Hat soeben mit der alten Göhlerin das Haus verlassen.« Sie lächelte. »Keine Angst! Sie haben mich nicht gesehen. Ich hab mich rechtzeitig in eine Einfahrt gedrückt.«
    Langsam kam sie näher.
    »Gut siehst du aus«, sagte sie. »Müde, aber gut. Und wie deine Augen strahlen! Genauso hab ich sie von unseren gemeinsamen Stunden in Erinnerung.«
    »Agnes, ich ...«
    »Ja?« Sie hatte sich vor ihm aufgebaut. »Was willst du mir sagen? Die Wahrheit? Findest du nicht, dass es allmählich Zeit dafür wird, Veit?«
    »Welche Wahrheit, Agnes? Deine? Meine? Es gibt so viele Wahrheiten.«
    »Ach ja?« Ihr Ton wurde schärfer. »Damit kommst du vielleicht bei deiner mageren roten Hexe durch, aber nicht bei mir. Wieso läufst du vor mir davon? Was hab ich dir getan?«
    »Nichts! Aber du hast einen Mann, zwei Töchter. Einen kleinen Sohn, der dich braucht. Daran solltest du denken.«
    »Noch vor kurzem hat dich das alles kein bisschen gestört. Und mein schwangerer Bauch erst recht nicht. Der hat dich besonders heiß gemacht! Nein, das ist es nicht. Dazu kenne ich dich zu gut. Und plötzlich treu geworden bist du auch nicht. Ein alter Kater wie du verlernt das Mausen nicht. Ich glaube vielmehr, dass du wieder auf Freiersfüßen wandelst. Magst du mir nicht sagen, wer sie ist?«
    Sie war ihm so nah, dass ihr Geruch schier übermächtig wurde – Lilien- und Veilchenöl, von allem wie immer etwas zu viel. Jähe Sehnsucht nach Ava überfiel ihn.
    Veit drehte den Kopf zur Seite und schwieg.
    »Du willst nicht reden? Auch gut, mein Lieber. Ganz, wie du willst! Aber das könntest du bald bereuen. Unsere schöne Stadt hat tausend neugierige Augen und Ohren – hast du das vergessen? Und sollte sich bestätigen, was ich vermute, dann wirst du eine ganz neue Agnes kennen lernen, das schwöre ich dir.«
    Ihr Blick war kalt geworden.
    »Die Erste, die davon erfährt, wird dein treu sorgendes Weib sein. Ich freu mich jetzt schon auf das Gesicht der dürren Marie!« Sie begann zu kichern. »Und dann der Fürstbischof! Denkst du vielleicht, ich wüsste nicht, wie man Gerüchte streut? Ein Krippenschnitzer, der hurt und die Ehe bricht – das wird ihm gefallen! Was meinst du: Soll ich dafür sorgen, dass der Weihbischof gleich mit informiert wird, oder sollen wir uns das für später aufheben, um die Spannung noch zu steigern? An geschlechtlichen Verfehlungen soll Förners Interesse übrigens nahezu gleich groß sein wie an allem, was mit Hexerei zu tun hat ...«
    Er sprang auf, packte ihre Handgelenke und zwang sie, ihn anzusehen.
    »Das wirst du gefälligst bleiben lassen, verstanden? Du hast kein Recht, dich in mein Leben einzumischen.«
    »Ach, hab ich nicht?« Ihre Augen glichen blassblauen Monden. »Was aber, wenn ich mir von dir keine Angst machen lasse? Und du gar nicht anders kannst, als auf meine klugen Vorschläge einzugehen? Damit hast du wohl nicht gerechnet, Veit Sternen!«
    Schweigend starrte er sie an, voller Abscheu.
    Agnes schien immun dagegen.
    »Küss mich!«, flüsterte sie. »Nimm mich – gleich hier. Zwischen deinen harten Spänen. Ich will das Holz auf meiner Haut fühlen. Und dich endlich wieder in mir spüren. Komm schon! Worauf wartest du noch? Es ist noch nicht zu spät, Liebster!«
    Veit ließ sie so abrupt los, dass sie taumelte, packte seinen Rock und rannte hinaus.

SECHS
    A vas Hände waren schwarz vom Holunder. Die reiche Ernte erschien ihr wie ein Zeichen. Es machte ihr Mut. Der Baum hatte dem Frost getrotzt; er hatte ihn zwar die Blätter gekostet, nicht aber die Früchte. In gewisser Weise ähneln wir uns, dachte sie, während sie die Beeren vorsichtig abstreifte. Wir warten, bis die Gefahr vorüber ist. Dann ziehen wir neue Kraft aus der Tiefe – und überleben.
    Zum

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