Die Hüterin der Quelle
das sie von Anfang an so angezogen hatte. »Mich kriegen keine zehn Pferde in die Regnitz! Ich betrachte sie lieber vom Boot aus, trocken und in respektvoller Entfernung. Ich kann nicht einmal richtig schwimmen.«
Er lachte erneut. Sie hörte die kleine Unsicherheit, die darin schwang.
»Aber ein Wildtier wie Reka wirst du trotzdem nicht. Obwohl man es manchmal fast glauben könnte, wenn man dich im Arm hält.« Er zog sie zu sich heran, und diesmal ließ sie es geschehen. Seine Lippen waren an ihrem Hals, an ihrem Ohr. Sie hörte, wie er seufzte, spürte, wie seine Hände durch ihr Haar fuhren. Er war nicht Veit. Aber Mathis, ihr alter Freund, mit dem sie viel verband.
»Davon hab ich geträumt. Und man träumt so einiges im Loch, das kann ich dir verraten! Wie weich du bist, Ava. Und wie gut du riechst!« Spielerisch begann er an ihr zu schnuppern. »Aber irgendetwas ist anders. Hilf mir weiter! Du riechst erdiger. Weiblicher. Was hast du angestellt? Ein Kraut, irgendein Öl? Oder ist es nur meine Sehnsucht, die …«
Abrupt machte sie sich los. Etwas Namenloses stieg in ihr auf. Eine unbegreifliche Mischung aus Freude und Angst, die sie bislang unterdrückt hatte.
»Was hab ich denn nun schon wieder Verkehrtes gesagt?«
»Nichts«, sagte Ava. »Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist nur, dass ich nicht ...«
Sie hielt inne, hasste sich plötzlich für die eigene Feigheit. Hatte Mathis kein Recht zu erfahren, was in ihr vorging?
»Soll das etwa heißen, der andere ist noch im Spiel?« Seine Stimme war plötzlich frostig. »Der, der dir schon vor Monaten die Ruhe geraubt hat? Hast du so meine Abwesenheit genutzt?«
Eine abwehrende Geste.
»Und ich dachte, als wir beide im Feuerkreis die Kornmutter gefeiert haben ...«
»Ja, das haben wir! Und ich bereue nicht einen Augenblick davon. Aber jetzt, Mathis«, Ava suchte nach Worten, »versteh mich nicht falsch. Ich fühl mich nicht besonders. Und ich muss nachdenken. Ich will allein sein. Bitte geh!« Sie sah die Enttäuschung in seinem Gesicht, die ihm alles Lebendige nahm.
»Und ich hatte geglaubt, wir beide ...« Seine Lippen bildeten einen graden Strich. »Du brauchst mich nicht fortzuschicken, Ava. Nicht noch einmal.«
Sie starrte ihn schweigend an.
»Ich werde dich nicht mehr belästigen, darauf kannst du dich verlassen. Wenn du etwas von mir willst, dann musst du schon zu mir kommen.« Er griff nach seinem Hut. »Die gefleckte Ziege ist übrigens trächtig. Wirst dich bald auf Nachwuchs einstellen müssen.«
»Jetzt, mitten im Herbst?«, entfuhr es ihr, obwohl die Übelkeit mit einem Mal so überwältigend war, dass sie kaum noch die Zähne auseinander bekam.
»Das Leben kommt, wann es will«, sagte Mathis. »Ohne uns zu fragen. Pass auf dich auf, Ava!«
Wieder einmal war die Kreide mitten im Strich abgebrochen. Wütend starrte Kuni auf das nutzlose Stückchen, das in ihrer Hand verblieben war.
»Das lern ich nie!«, sagte sie und stieß die andere Kreide wütend mit dem Fuß weg. »Dieses verdammte D – warum muss es auch einen so fetten Wanst haben!«
Toni und Kaspar verkniffen sich das Kichern, während Lenchen verträumt dabeisaß.
»Versuch es noch einmal!«, sagte Lenz. »Es ist ähnlich wie mit dem Schwimmen. Erst denkt man, man lernt es niemals, und plötzlich ist es ganz einfach.«
»Was heißt hier ›einfach‹!«, schnaubte sie. »Meine Finger sind dazu gemacht, Eier zu stehlen. Ich kann Börsen angeln und Wunden ausbrennen. Meinetwegen auch noch Körbe flechten, wenn es unbedingt sein muss. Aber zum Schreiben taugen sie nicht.«
»Du willst aufgeben?«
»Das könnte dir so passen!« Kuni strich sich das Haar aus der Stirn. Es ging ihn nichts an, dass ihre Achseln nass vor Aufregung waren und die Hände so feucht, dass sie die Kreide kaum halten konnte. Von seinem Zuhause erzählte er so gut wie nie, obwohl sie häufig versucht hatte, ihn dazu zu bewegen. Arme Leute waren seine Eltern bestimmt nicht gewesen, das stand für sie fest. Sie hatten nicht mit dem Vieh in einer Hütte gehaust, so wie sie oder Toni. Von Lenchen und ihrer Mutter ganz zu schweigen. Obwohl sie kaum etwas über sie wusste. Aber die Kleine fing sofort zu flennen an, sobald die Rede auf sie kam.
Irgendetwas war anders an Kaspar und ihm. Das roch sie förmlich. Die Art, wie er sich bewegte und wie er redete, obwohl er schon so lange auf der Straße lebte. Außerdem hatte Lenz Lesen und Schreiben gelernt, als er vielleicht halb so alt gewesen war wie sie
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