Die Hüterin der Quelle
heute. Und was er geschafft hatte, das schaffte sie auch!
»Ich gebe nicht auf«, bekräftigte sie. Sie liebte es, das letzte Wort zu behalten. »Niemals! Das weißt du doch? Also, zeig mir den nächsten Buchstaben!«
Die Kinder hatten sich ein ruhiges Plätzchen am Fischmarkt gesucht, wo sie die warmen Strahlen der Herbstsonne genossen. Hinter ihnen schlugen die Fischerboote am Kai dumpf gegeneinander, eine eintönige, beruhigende Musik. Die Stände waren abgeräumt, der Verkauf bereits zu Ende, aber ein paar Reste waren noch für sie abgefallen. Ab nächster Woche, wenn Ava hier ihre Körbe auslegte, war deutlich mehr zu erhoffen.
Lenz nahm ihr die Tafel aus der Hand. Er schien nachzudenken, wollte zuerst ein E zeichnen, dann aber malte er einen vollkommenen Kreis, glatt und rund.
»O«, sagte er. »Und das daneben, das mit dem geraden Strich und dem Querstrich darüber, das ist ein T. Ganz einfach. T wie Toni. Siehst du?« Er bückte sich nach der abgebrochenen Kreide und gab sie ihr. Wenn sie das erst einmal beherrschte, konnte sie schon bald ein richtiges Wort, einen Namen schreiben. Die nächste Stufe. Er erinnerte sich noch gut, wie froh ihn das damals gemacht hatte.
Kunis Hand begann zu zittern. Das T bereitete ihr keine Schwierigkeiten, das O allerdings. Was bei Lenz so mühelos entstanden war, kam bei ihr schief und krakelig heraus.
»Das soll ein O sein?« Plötzlich stand Selina vor ihnen. »Es sieht eher aus wie ein Ei. Ein Ei von einem kranken Huhn.«
Kuni versteckte die Tafel hinter ihrem Rücken. Ihr Gesicht brannte. Ausgerechnet sie – das war noch schlimmer, als auf frischer Diebestat ertappt zu werden!
»Hau ab, Miststück!«, sagte sie. »Wir brauchen dich nicht.«
Das Mädchen rührte sich nicht.
»Hast du mich nicht verstanden?«, schrie Kuni. »Oder willst du Prügel?«
»Marie hat mir die Hand geführt«, sagte Selina sehr langsam und vermied es, Lenchen dabei anzusehen. »Meine Stiefmutter. Da wurde das Schreiben plötzlich ganz einfach.«
Jetzt hafteten die Blicke aller Kinder auf ihr. Toni schaute äußerst skeptisch drein, das war ihr gleich aufgefallen, und das kleine Mädchen mit der roten Haube, das sie Nacht für Nacht bis in die schlimmsten Träume verfolgte, tat, als wäre sie gar nicht vorhanden. Aber zum Glück gab es ja noch die braunen Augen von Lenz. Versinken mögen hätte sie darin. Aber nicht jetzt. Und schon gar nicht vor der anderen.
Sie machte einen Schritt auf Kuni zu und noch einen. Doch die war plötzlich aufgesprungen und wich zurück.
»Stehen bleiben«, sagte Selina. »Sonst geht es nicht.«
Zu ihrer Überraschung gehorchte Kuni. Selina nahm ihr die Tafel aus der einen Hand, die Kreide aus der anderen.
»Setz dich.« Sie tat es ihr nach und legte die Tafel auf den Boden. »Deine Hand!«, sagte sie. »Die rechte.« Sie gab ihr die Kreide. »Wir machen jetzt zusammen ein O.« Ihre Hand legte sich um Kunis, ganz leicht, aber die Führung war doch zu spüren. »Los – wir schreiben.«
Ein geschlossener Kreis entstand, nicht ganz perfekt, aber um vieles besser als das ungelenke Etwas von eben.
»Du kannst ja zaubern!« Kuni starrte sie ungläubig an.
Selina schüttelte den Kopf und lächelte.
»Nein, nur schreiben«, sagte sie. »Und das kann jeder lernen.«
»Was willst du wirklich?«, sagte Kuni. Sie nahm die Tafel und stand auf. Niemals würde sie das kostbare schwarze Ding wieder hergeben. »Warum bist du hier?«
Selina, die sich ebenfalls erhoben hatte, schien plötzlich nach Worten zu ringen. Erst als Lenz ihr aufmunternd zunickte, begann sie zu sprechen.
»Ich will euch etwas zeigen. Ein Geheimnis.«
»Wieso auf einmal so freundlich? Willst du dich bei uns einschleimen?«
»Kein Interesse?« Jetzt sah Selina nur noch Lenz an. Seit Simon fort war, war er ohnehin der einzig wichtige Mensch für sie auf der Welt. »Soll ich wieder gehen?«
»Nein, bleib! Ich will es sehen«, sagte er. »Unbedingt. Und ihr? Was ist mit euch?« Seine Frage galt den Kleinen.
Erst nickte Kaspar, dann, mit einer Verzögerung, auch Toni. Sogar Lenchen bewegte schließlich zustimmend den Kopf.
»Was ist es?«, beharrte Kuni.
»Ein Geheimnis«, sagten Lenz und Toni im Chor, und dieses Mal gelang Selina das Kunststück, nahezu gleichzeitig von ihren Lippen zu lesen.
»Ein Geheimnis?«, wiederholte Kuni. »Das ist mir zu billig.«
»Was willst du wissen?«, sagte Selina.
»Alles«, sagte Kuni. »Sonst kannst du dich gleich wieder verziehen.«
»Alles, das
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