Die Hüterin der Quelle
Mancini hatte sich bemüht, seine Enttäuschung über den abrupten Aufbruch herunterzuspielen, und freundlicherweise nicht versäumt, ihm einen Hinweis auf die Messen zu geben, die mehrmals im Jahr hier stattfanden. Aber Simon war zur falschen Zeit gekommen. Die Messe zu Ägidius hatte bereits Anfang September stattgefunden, und bis zu der von St. Andreas am Tag vor Allerheiligen konnte und wollte er nicht warten. Abends wurde es bereits empfindlich kühl. Auf den Bergspitzen entdeckte er das erste Weiß. Außerdem brannte er darauf, all die neuen Eindrücke und Erfahrungen seiner Reise endlich in Holz umzusetzen.
Er sattelte Lucie und machte sich auf den Weg nach Brixen.
Wie beim letzten Mal empfingen ihn dort die Strahlen einer warmen Herbstsonne. Er ließ es sich nicht nehmen, bei den Rienzos vorbeizuschauen, die ihn freundlich empfingen und neugierig die Stoffproben begutachteten, die er vor ihnen aufrollte. Er erzählte von der Reise, plauderte über die Veroneser Tuchhändler, aber auf das, was ihm eigentlich auf dem Herzen lag, kam er nicht zu sprechen.
Er hatte sich wieder im Mohren einquartiert und erkundete zwei Tage lang die Stadt zu Fuß. Überall sah er Kapuzinermönche. Ganz Brixen schien von ihnen zu wimmeln, als ob die braunen Kutten heimlich die Herrschaft übernommen hätten. Wohin er seine Schritte auch lenkte, den Priester, nach dem er Ausschau hielt, entdeckte er nirgendwo.
Als am dritten Morgen eine dünne Schicht Raureif die Dächer bedeckte, wusste Simon, dass er nicht länger warten durfte. Er beschloss, sich den Reisesegen für die spätherbstliche Alpenüberquerung bei einer Messe zu holen.
Er war zu früh gekommen. Vorne, am Altar, entzündeten zwei bärtige Kapuzinermönche gerade die Kerzen in den silbernen Kandelabern. Sonst war das Kirchenschiff menschenleer.
Simon war nicht in der Stimmung, um sich in die Motive der zahlreichen Seitenkapellen zu vertiefen. Alles, was er hier wollte, war ein freundlicher Segen für die lange Heimreise, die ihm bevorstand. Seine Augen wanderten nach oben, wo blasses Morgenlicht durch die Glasfenster fiel. Ein vereinzelter Sonnenstrahl brach sich Bahn und beleuchtete seine Füße.
Fast hätte er aufgeschrien, denn vor ihm, auf dem Boden, lag ein Mann, bäuchlings, in einem dunklen Mantel, die Arme zum Kreuz ausgebreitet. Etwas an ihm kam Simon bekannt vor, obwohl er sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er den schmalen Silberreif an der linken Hand entdeckte, wusste er auf einmal, wen er vor sich hatte.
Er kniete sich neben den Mann, berührte sanft seinen kräftigen Rücken.
»Adam«, sagte er. »Ich bin es. Simon.«
Langsam erhob sich der andere. Sein Gesicht war blass und so bewegt, dass er Simon zunächst ganz fremd erschien.
»Ich hab um eine Entscheidung gebetet«, sagte er. »Tag für Tag. Nacht für Nacht. Monatelang. Und um Barmherzigkeit. Denn der Vater im Himmel ist doch barmherzig, Simon? Jetzt bist du gekommen. Er muss dich mir geschickt haben. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.«
Simon nickte. Alles erschien auf einmal so logisch, so folgerichtig. Als sei sein ganzes bisheriges Leben auf diesen einen Moment zugelaufen.
»Ich muss zurück nach Bamberg«, sagte er. »Heute noch. Begleitest du mich, Adam?«
»Ja.« Adam Thies sah ihn offen an. »Bamberg – das ist auch mein Ziel.«
Pankraz Haller sah erst auf, als er Hanna im Zimmer stehen sah.
»Ich hab mehrmals geklopft«, sagte sie. »Aber du hast mich nicht gehört.«
»So geht es einem, wenn man in der Vergangenheit versinkt.« Er deutete auf den Tisch, wo verschiedene Kästchen standen. Einige davon waren geöffnet. Briefe, Schmuckstücke und schön verzierte Gerätschaften des täglichen Lebens lagen vor ihm. »Das alles hat einmal meiner Frau gehört«, sagte er. »Sie hat uns leider viel zu früh verlassen, mein Mädchen und mich. Es hat bis heute gedauert, bis ich auf den Dachboden steigen und es wieder in die Hand nehmen konnte. Marie hat mich oft danach gefragt, aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht.«
»Die Erinnerung lebt in uns«, erwiderte sie. Lag in ihrem Lächeln nicht eine Spur Spott? Er war sich nie sicher, was sie wirklich dachte, denn Hanna hatte die Angewohnheit, wenig zu reden und doch viel zu sagen. »Mächtig sind die Toten, die in unseren Herzen ruhen. Und solange sie lebendig sind, braucht man keine Haarnadeln, Broschen oder Scheren.« Sie räusperte sich. »Soll ich wieder die Hechtpastete von neulich zum Abendessen
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