Die Hüterin des Evangeliums
Evangelium hüten? Eine Person wie Christiane wird damit mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.«
»Nun, das würde ich nicht so formulieren ...«
»Hat sie Euch auch geblendet, Herr Delius? Hübsch anzusehen ist sie, das kann ich bestätigen, obwohl ich in meinem Herzen stets Mönch geblieben bin. Meine Frau, Severins Mutter, war die Einzige ... ach, einerlei«, energisch griff Titus nach seinem Weinkrug und nahm diesmal mehr, als er vertrug, verschluckte sich. Seine Gier mündete in einem Hustenanfall.
Ditmold schlug ihm kräftig auf den Rücken. »Wenn Ihr Euch beruhigt habt, sollten wir aufbrechen. Eure Söhnin wird sicher nicht so beschäftigt sein, dass sie sich nicht über Eure Heimkehr freuen würde. Und bei dieser Gelegenheit kann sie dir endlich die Fälschungen aushändigen, Wolfgang.«
47
Ein Schwall eiskalten Wassers traf Christianes Gesicht.
Verstört schreckte sie auf. Die Dunkelheit um sie her lichtete sich mit einem Mal. Als sie vorsichtig die Augen öffnete, schien zwar die Sonne nicht mehr, aber eine wolkenverhangene Dämmerung bestätigte ihr, dass sie noch am Leben war. Ihr zaghafter Versuch, sich aufzurichten, scheiterte an entsetzlicher Übelkeit und einem plötzlich aufflammenden Schmerz in ihrem Kopf, der sich wie eine Schwertklinge anfühlte, die durch ihren Schädel gezogen wurde. Christiane schloss die Lider und seufzte unter ihrer Qual.
»Ach, Ihr lebt noch«, Imhoffs Kommentar glich einem entnervten Stöhnen. »Ich hätte schwören können, dass Ihr Euch den Hals gebrochen habt.«
Die Angst zog Christianes Eingeweide zusammen. Ihre Därme schienen ein Eigenleben zu führen und bewegten sich unaufhaltsam in ihrem Bauch. Warmer Urin rann an ihren Schenkeln entlang.
Sie biss sich die Unterlippe wund, wagte nicht, noch einmal aufzuschauen, denn dann würde sie in Imhoffs triumphierende Fratze sehen. In ihrem Zustand konnte sie ihm nicht entkommen.
Sie war verloren, denn er würde sie töten. Sein Anblick sollte jedoch nicht das Letzte sein, das sie als Erinnerung in die Ewigkeit mitnahm.
»Wenn Ihr weiter so zittert, fallt Ihr noch von der Trage«, meldete sich eine volltönende, tiefe Männerstimme, die Christiane gänzlich unbekannt war. Verwundert bemerkte sie, dass ihr Körper bebte. Ihre Hände tasteten nach der Unterlage. Irgendjemand hatte sie von der Wiese in ein Bett aus Leder gehoben. War Imhoff so zuvorkommend gewesen? Warum hatte er sie nicht einfach liegen lassen?
Neugierig riskierte sie nun doch einen Blick – und sah in das wettergegerbte, bärtige Gesicht eines Fremden. Ein spitzer, heiserer Schrei entwich ihrer ausgetrockneten Kehle.
»Regt Euch nicht auf, Herrin, Ihr seid in Sicherheit«, behauptete der Mann. »Ihr werdet’s überleben, wohingegen Euer Freund wohl weniger Glück hatte.«
Wenn doch dieser Schwindel nachlassen würde und der Kopfschmerz, damit sie begreifen konnte, was der Fremde sagte. Sie hatte jedes Wort gehört, verstand aber den Sinn nicht. Deshalb entschied sie sich für die einzige vernünftige Frage, die ihr einfiel: »Wer seid Ihr?«
»Man nennt mich Andreas den Schäfer. Mit Gottes Hilfe wandere ich mit meiner Herde umher und versorge die Städter mit Wolle und Fleisch.«
Das klang gut.
Christiane hatte zwar noch nie einen Hirten kennengelernt, aber sie war überzeugt davon, dass der ihr nicht nach dem Leben trachtete, obgleich sie das natürlich nicht genau wissen konnte. Ihr Herz stolperte bei jedem zweiten Schlag, ebenso unsicher wie ihr Geist, ob dies nicht doch die letzte Lüge war, die sie im Diesseits hörte.
»Rufe Gott nicht an!«, warnte Imhoff. »Ihr seid ein gottloser Haufen. Wahrscheinlich steckst du mit den anderen unter einer Decke. Ihr hattet es auf mich abgesehen, nicht wahr?«
»Herr, es waren Wilderer, die Euch angeschossen haben«, widersprach der Schäfer mit der Geduld eines Menschen, der sich nicht häufig einem Disput stellen musste. »Sie hatten es auf die Hasen abgesehen und die Rehe im Wald. Gestern hat es eines meiner Lämmer erwischt ...«
»Halte den Mund, Unwürdiger! Ich bin kein Tier. Was sind das für Gemeine, die nicht einmal zwischen einem Karnickel und einem Mann unterscheiden können?«
»Vogelfreie, die eine Arkebuse erbeuteten und nie gelernt haben, damit zu schießen«, erwiderte eine andere Männerstimme, in der Mitgefühl für die Ärmsten schwang, die der Stadt verwiesen und nicht einmal mehr um Almosen betteln durften. »Der Rückstoß reißt ihnen den Lauf hoch, und sie treffen
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