Die Hüterin des Evangeliums
gedankenverloren. Welcher Mensch hatte sich zuletzt eigentlich Sorgen um sie gemacht? Ihr Vater bestimmt nicht – und Severin? Vielleicht, sie wusste es nicht genau. Dafür war sie sich sicher, dass ihre Cousine um ihr Wohlsein besorgt gewesen war. Christiane fuhr sich unwillkürlich mit den Fingern durch ihre wirres Haar. »Ich sehe jetzt bestimmt aus wie Martha«, meinte sie leise.
»Nein. Nein, das tut Ihr nicht. Auch unter der unordentlichsten Frisur ist Euer geschliffener Verstand erkennbar.«
»Martha war viel sanfter – ich weiß ...«, ihre Worte verloren sich in Traurigkeit, und es tat unendlich gut, dass Wolfgang Delius wieder nach ihrer Hand griff. Die Wärme seiner Finger durchströmte ihren Arm.
Bald, dachte Christiane, bald erreicht sie mein Herz.
Plötzlich flossen die Worte aus ihr heraus. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit mit der verwaisten Martha an ihrer Seite, von deren Glück, Sebastian Rehm gefunden zu haben, und der Geburt des kleinen Johannes, deren Patin Christiane wurde. Sie entsann sich einer Menge erfreulicher Geschichten und bemerkte dabei nicht, mit welchem Geschick Wolfgang Delius das Gespräch vor allem auf die glücklichen Momentelenkte. Irgendwann fiel ihr wie zufällig auf, dass sie noch nie zuvor so viel über ihre Cousine und Freundin gesprochen hatte. Und mit der Erinnerung an Martha kehrten auch Gefühl und Lebendigkeit in ihre Seele zurück.
»Ihr seid ein guter Zuhörer«, stellte sie schließlich fest und fügte langsam hinzu: »Ihr bereitet mir ein Geschenk, weil ich so unbefangen sprechen darf.«
»Es kostet mich nicht viel. Ihr erzählt lebendig und anschaulich. Wer sollte da nicht gerne zuhören?«
»Ach, manchmal denke ich, es hat sich noch niemand sonderlich für das interessiert, was ich zu sagen hatte – außer Sebastian Rehm. Der war für mich da. Und ... Georg Imhoff gab mir das Gefühl, von einigem Wert zu sein.«
»Hm. Ich weiß. Er verstand es, Menschen für sich einzunehmen. Sonst hätte sich wohl kaum ein Mann wie Sebastian Rehm für ihn eingesetzt. Imhoff war vermutlich ein schlechter Dichter, aber der geborene Prediger.«
Christiane lehnte sich schläfrig auf der Bank zurück. Die alten Geschichten hatten sie ermüdet. Endlich. Denn sie hatte angenommen, nach den Erlebnissen dieses Tages nie wieder ein Auge zutun zu können.
»Meint Ihr, Herr Ditmold hält sich noch immer in der Küche auf?«, fragte sie zusammenhanglos.
»Vielleicht hat er einen Blick auf die junge Gemüsemagd geworfen«, erwog Delius. »Soll ich ihn holen?«
»Nein, nein, lasst ihn nur, wo er ist. Ich wollte mich bedanken, bevor ich mich in meiner Kammer niederlege.«
»Werdet Ihr schlafen können und nicht von Alpträumen gestört werden?«
»Der Traum kann kaum schlimmer sein als die Realität.«
»Es ist vorbei. Ihr braucht Euch nicht mehr zu fürchten.«
»Ja«, raunte sie. Mühsam stemmte sie sich hoch, die Hände auf der Tischplatte aufgestützt. »Ich werde versuchen zuschlafen. Sobald der Morgen hereinbricht, möchte ich nach Hause. Der kleine Johannes braucht mich.«
»Davon bin ich überzeugt.« Er erhob sich und nahm ihren Arm. »Ihr solltet nicht alleine gehen ...«
Bittere Ironie glänzte in ihren Augen. »Befürchtet Ihr, in dieser Poststation würde mir Übles geschehen?«
»Das nicht«, er sah sie eindringlich an und hielt ihre Blicke fest, »aber ich möchte dich nicht dir selbst überlassen ... Ich würde dich gerne in meinen Armen halten, Christiane. Dich halten und trösten.«
Eine dunkle, kaum vernehmbare innere Stimme erinnerte sie daran, dass dies eine unmögliche Situation war. Unschicklich und absolut unmöglich. Kein Mann sagte zu einer Frau, dass er sie umarmen wolle, warum auch immer. Und keine anständige Frau sehnte sich dermaßen danach wie sie in diesem Moment. Allein Wolfgangs Stimme lullte sie ein wie das geliebte warme Bad.
»Ich bin nicht so stark, wie es den Eindruck erwecken mag«, sagte sie.
Statt einer Antwort schob er sie sanft zur Stiege. Niemand in der Gaststube schien darauf zu achten, wie der attraktive Mann und die aufgelöst und verwirrt wirkende junge Witwe gemeinsam zu der Kammer schritten, die ihr zuvor vom Wirt zugewiesen worden war.
Christiane dachte daran, dass sie vollkommen wahnsinnig sein musste, wenn sie tat, wonach ihr gerade der Sinn stand. Vor ihrem geistigen Auge formten sich jene wenigen Bilder von Liebe und Leidenschaft, die ihre unglückliche Ehe und ihr Verhältnis zu Georg Imhoff bestimmt hatten.
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