Die Hüterin des Evangeliums
Fenster, an dem der Verleger zuvor zu schreiben versucht hatte. Es wurde langsam voller, die ersten Söldner begannen ihren frühen Feierabend mit einer deftigen Mahlzeit, Bier oder Wein und einem Glücksspiel. Die Sonne stand längst nicht mehr an ihrem höchsten Punkt und wurde darüber von aufziehenden Wolken verdeckt, doch der Abend war noch weit.
»Der kleine Mohr in seinen Diensten verriet«, begann Ditmold und riss ein Bein aus dem gebratenen Huhn, das ihm eben serviert worden war. Die Hähnchenkeule maliziös zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, fuhr er fort: »Dass sein Herr auf dem Weg zur Posthalterei Auerbach sei.«
»Was will er ausgerechnet dort?«, fragte Delius verwundert, dem der Appetit vergangen war. Aber er wusste, dass sein Freund Aufregung am besten mit einer Mahlzeit bekämpfte. Deshalb hatte der auch eine andere Figur als er.
»Sehnsucht nach dem Tatort, was weiß ich«, erwiderte Ditmold mit vollem Mund. »Beten wir, dass der Eilbote mit den Befehlen des Reichserbmarschalls die Poststation erreicht, bevor Imhoff weiterreist.«
»Dann warten wir also, bis die Wachen ihn in die Stadt zurückbringen«, resümierte Titus und hob den Krug an seine Lippen, in den er hineinnuschelte: »Ich will dem Mörder meines Sohnes ins Gesicht spucken.«
»Er hat auch Sebastian Rehm umgebracht«, erinnerte Delius leise, »und den Lehrling Anton.«
»Genau genommen wissen wir das nicht«, betonte der Assessor. »Wir haben nicht den geringsten Beweis für Imhoffs Schuld, nicht einmal Hilfstatsachen, keinen Zeugen, geschweige denn, zwei, die für eine Verurteilung nach Artikel siebenundsechzig der Constitutio Criminalis Carolina notwendig wären. Er könnte deshalb erst nach einem umfassenden Geständnis durch das Rad hingerichtet werden. Allerdingsist fraglich, ob unsere Vermutungen überhaupt für eine Anklage ausreichen. Das Strafgesetzbuch Seiner Majestät ist da eindeutig.«
»Die Tatsache, dass er der Täufer-Prediger ist, genügt doch wohl für den Henker«, meinte der alte Titus, bevor er einen kräftigen Schluck nahm.
»Ja, das schon. Aber wollt Ihr nicht, dass die Morde gesühnt werden?« In Ditmolds Stimme schwang Traurigkeit mit, als er hinzufügte: »Ich denke, das bin ich der toten Rehmin schuldig.«
Titus stellte den Weinkrug mit einem lauten Geräusch auf den Tisch. »Was? Martha ist gestorben? Hat der Teufel sie auch auf dem Gewissen?«
»Nein«, erwiderte Delius sanft.
Er empfand Mitleid mit dem alten Mann. Tränen liefen unkontrolliert aus dessen greisen Augen. Christianes Cousine lag Titus Meitinger offenbar sehr am Herzen. Wem eigentlich nicht?, fragte er sich im Stillen. Sie war ein guter Mensch gewesen, mochte Gott ihren und Sebastians Sohn beschützen.
Laut sagte er: »Martha Rehm ist eines natürlichen Todes gestorben. Niemand hat Hand an sie gelegt ...«
Zur Überraschung der beiden Jüngeren murmelte Titus geistesabwesend: »Es muss furchtbar für Christiane sein. Ein so großer Verlust.«
»Es war auch schlimm für Eure Söhnerin, als Ihr plötzlich wieder verschwunden seid«, erklärte Ditmold.
Delius sah ihn bewundernd an. Sein Freund war geschickt darin, treffende Bemerkungen zum richtigen Zeitpunkt in das Gespräch einfließen zu lassen. Gleich würde er zum Kern kommen.
Prompt fragte Ditmold: »Wo seid Ihr gewesen, Meitinger?«
Titus fühlte sich offensichtlich überrumpelt. Sein Kopf schnellte hoch, er blickte den Assessor aus seinen alten, wässrigenAugen erstaunt an, als habe er die Anwesenheit des anderen Mannes vergessen. Mit einer fahrigen Geste wischte er sich die Tränen aus dem faltigen Gesicht und rieb sich die ohnehin schon roten, geäderten Lider. Schließlich sagte er: »Ich habe fast vierzig Jahre geschwiegen ... Ist dies der Moment, die Wahrheit zu offenbaren? Ist dies der Ort, meinen Verrat zu gestehen?«
Demonstrativ blickte er sich in der Gaststube um. Als seine Begleiter nicht antworteten, wandte er sich, wieder verstummt, seinem Weinkrug zu.
»Es scheint mir die rechte Zeit zu sein – ja«, bestätigte Ditmold nach einer Weile, und sein Verlegerfreund hielt unwillkürlich den Atem an. »Was immer Euer Geheimnis ist, Meitinger, Ihr könnt es nicht länger für Euch behalten. Wenn Ihr um eine Strafe besorgt seid, so werde ich zu gegebener Zeit schauen, was ich für Euch tun kann. Offenheit soll nicht Euer Schaden sein.«
Titus schluckte schwer. »Ich war unterwegs, um Buße zu tun«, hob er schließlich in einem Ton an, der überraschend
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