Die Hüterin des Evangeliums
gewünscht hatte. Ihr Zauberwort hatte immer Selbständigkeit geheißen, doch zwei Tage nach Meitingers Tod verstand Christiane nicht mehr, welche Magie sie einst dahinter vermutet hatte.
»Selbstverständlich müsst Ihr Euch an gewisse Auflagen halten«, fuhr der Zunftmeister fort, nachdem die Witwe seine Botschaft mit Schweigen zur Kenntnis genommen hatte. Er schien beunruhigt, weil Christiane so still war, und vielleicht fragte er sich bereits, ob die Gesetze sinnvoll waren, die es der Frau eines Handwerkers erlaubten, dessen Werkstatt im Todesfall zu übernehmen. Andererseits kannte er die schöne, junge Meitingerin nicht und konnte sich kein Bild von ihr machen, was die Situation nicht vereinfachte. Da er Protestant war, hatte er nicht zum engeren Kreis des Verstorbenen gehört.
Bäumler räusperte sich. »Zunächst einmal werdet Ihr alle Schulden bezahlen müssen. Eure Mitgift solltet Ihr dafür nicht verwenden und mögliche Morgengaben auch nicht, so sieht es das Recht vor. Aber ich vermute, dass das Vermögen Eures Gatten – Gott hab ihn selig – ausreichen wird, um die Verbindlichkeiten zu tilgen. Er war ja nie kleinlich und schien nicht unter den finanziellen Schwierigkeiten anderer Druckermeister der Stadt zu leiden.«
»Davon werdet Ihr überzeugt sein, nachdem Ihr die Buchhaltung studiert habt«, erwiderte Christiane. Sie wagte nicht zuzugeben, dass sie nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie es um die Kontostände ihres Mannes stand. Umso erleichterterwar sie, als sich Bäumler angeboten hatte, die Bilanzen zu prüfen.
»Ja. Gut. Dieser Punkt ist damit geklärt ... Des weiteren ist für den Fortbestand einer Witwenwerkstatt die Beschäftigung eines Gesellen notwendig.«
»Karl arbeitet seit vielen Jahren für die Druckerei Meitinger, er war meinem Gatten treu ergeben und wird sicher in seinem Sinne weiterhin tätig sein.«
»Den Lehrling müsst Ihr entlassen. Witwen ist die Ausbildung nicht gestattet.«
Christiane erbleichte. Nervös verflocht sie die Finger ihrer sittsam gefalteten Hände in ihrem Schoß. Es war ihr nicht wohl dabei, Anton fortzuschicken. Der Lehrbub war stets freundlich, anstellig und willig gewesen, jeden Auftrag zum Besten zu erledigen. Meitinger hatte Verantwortung für ihn getragen, eine Verpflichtung, die sie selbstverständlich übernehmen wollte. Wie aber konnte sie ihre Schuldigkeit guten Gewissens erfüllen, wenn sie Anton von einem Tag auf den anderen vor die Tür setzen musste? Wo sollte der Junge überhaupt hin?
»Natürlich würde ich mir niemals anmaßen, einen Lehrling anleiten zu wollen«, hob Christiane an, »aber die Dinge liegen gewiss anders, wenn in Betracht gezogen wird, dass diese Werkstatt nicht ohne Meister ist. Der Schmäher lebt in diesem Haus und erfreut sich nach wie vor bester Gesundheit.«
»Titus Meitinger hat alle Rechte und Pflichten an seinen Sohn abgetreten. Abgesehen davon, dass die Statuten des Rates geändert wurden und bei einem Erbe Witwenschaft und gegebenenfalls Kinder unbedingt vor Blutsverwandtschaft stehen, ist seine Entscheidung gültig. Er mag den Erbverzicht unter anderen Voraussetzungen eingegangen sein, aber das ändert nichts.« Bäumler sah sich demonstrativ um, als wüsste er nicht, dass sich außer ihm und Christiane niemand inMeitingers Schreibstube befand. »Wo ist er eigentlich? Sollte er an dieser Unterredung nicht dennoch wenigstens teilnehmen? Ihr werdet den Rat des alten Titus brauchen, Meitingerin.«
O ja, dachte Christiane bitter, genau das ist es. Ich brauche ihn. Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung vor etwa einem halben Jahr hatte sie den Wunsch nach der Nähe ihres Schwiegervaters. Wo war er nur hingegangen? Hatten ihn die Anschuldigungen Conrad von Hallenslebens so verwirrt, dass er sich ruhelos in der Weltgeschichte herumtrieb? Wann genau war er eigentlich abgereist? Hatte er Severins Spur noch aufnehmen und den Sohn zu einer Aussprache stellen können? Christiane wurde übel bei dem Gedanken, dass Titus in seiner Wut handgreiflich geworden sein könnte. Vernünftigerweise war jedoch kaum anzunehmen, dass der alte Mann die Kraft besaß, einen anderen niederzuschlagen. Welche Schuld oder Tragödie versperrte Titus den Weg nach Hause?
Als sie ihm wieder nicht antwortete, schien der Zunftmeister tatsächlich verärgert. Er straffte die Schultern, legte die Hände auf die Stuhllehne und signalisierte damit das Ende des Gesprächs. Als käme ihm noch ein Gedanke, sagte er im Aufbrechen: »Ach, und
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