Die Hüterin des Evangeliums
werden ohne Severin? Obwohl Drucker zu den freien, akademischen Berufen wie etwa Juristen und Ärzte gehörten und damit keiner Zunftbeschränkung unterlagen, hatte sich Severin einer Gilde angeschlossen, das war sicher, aber ihr war der Meister nicht bekannt, der die Hand über die Mitglieder hielt. Der Geselle würde ihr wahrscheinlich sagen können, an wen sie sich wenden musste. Oder natürlich Titus ...
Delius stieß sich vom Schreibpult ab, gegen das er sich während ihres Gesprächs wieder gelehnt hatte. »Es ist keine Undankbarkeit, wenn Ihr mich jetzt fortschickt, gewiss nicht«,versicherte er ihr. »Eigentlich war die Begegnung mit Frau Rehm für mich der Grund, Euer Haus aufzusuchen, und sie ist derzeit ohnehin nicht in der Lage, mich zu empfangen.«
»Nein, wohl nicht.«
Er blickte sie nachdenklich an, schien den Abschied hinauszuzögern. Als wolle er sie berühren, hob er die Hand, doch er unterließ diesen Trost, sein Arm sank wieder herab. »Ich habe Quartier im Gasthaus Zu den drei Mohren in der Steinhausgasse genommen. Ihr könnt mich dort jederzeit benachrichtigen, wenn es Frau Rehm gut genug geht, mit mir zu sprechen ... und falls ich Euch irgendwie helfen kann.«
Sie nickte und trat schweigend zur Seite, um ihm den Weg zur Tür freizumachen. Erst nachdem er gegangen war, fiel ihr eine Frage ein, die die ganze Zeit über irgendwo in ihrem Kopf gelauert hatte, von ihr jedoch übersehen worden war. Dafür beschäftigte sie die fehlende Antwort nun aber umso mehr: Woher wusste der unbekannte Reisende aus Frankfurt von Severin Meitingers gewaltsamem Tod?
18
»Nach den Statuten der fräulichen Rechte seid Ihr Severins Alleinerbin und könnt die Werkstatt als Witwenbetrieb fortführen«, erklärte Kaspar Bäumler, der Zunftmeister des Druckerhandwerks, und beugte sich auf seinem Stuhl vor, Christiane ebenso neugierig wie erwartungsvoll betrachtend.
Sie trug das schwarze Kleid, das sie sich zu Sebastians Beerdigung hatte schneidern lassen. Sein Stoff war eigentlich zu warm, doch Christiane besaß keine Trauergarderobe, die der Jahreszeit angemessen war. Bis die Schneiderin ihren eilig erteilten Auftrag erfüllt hatte, würde sie sich mit diesem Gewand zufriedengeben müssen. Sie sah sehr adrett darin aus.Severin wäre zufrieden mit ihr, und sie wusste, wie wichtig ihm der Eindruck gewesen wäre, den sie als Witwe vermittelte. Keine Sorge, Meitinger, sinnierte sie und setzte sich ihrerseits noch ein bisschen aufrechter, ich mache eine gute Figur und dir keine Schande.
Inzwischen hatte sie erfahren, dass der Ratsbote in ihrer Abwesenheit vorstellig geworden war. Die traurige Nachricht hatte der alten Magd derart zugesetzt, dass sie kopflos in die nächste Kirche gelaufen war, um für ihren verstorbenen Herrn zu beten. Deshalb war sie nicht im Haus gewesen, als Wolfgang Delius an die Tür geklopft hatte. Christiane fragte sich zwar, welch drängendes Interesse der Herr aus Frankfurt an einer Begegnung mit Martha besaß, dass er in ein fremdes Heim eindrang, in dem offensichtlich gerade niemand anwesend war. Aber letztlich spielte die Antwort darauf keine Rolle, denn durch seine Tatkraft hatte er ihre Cousine womöglich vor dem Verbluten gerettet. Durch seine Hilfe ging es Marthas Körper gut, über ihre Seele konnte Christiane indes nur Vermutungen anstellen, da Martha jede Nachfrage geschickt überspielte.
Der alte Titus blieb den ganzen Abend über verschwunden, selbst in der Nacht kehrte er nicht heim, und Christiane begann sich Sorgen zu machen. Mit einer gewissen Erleichterung stellte sie fest, dass der Schmerz erträglicher wurde, solange sie sich um das Wohl der anderen ängstigte.
Sie war dazu erzogen worden, eine gute Tochter zu sein und eine treusorgende Ehefrau zu werden. Mehr hatte ihr das Leben nach Meinung ihrer Eltern nicht zu bieten, und die Verheiratung mit Sebastian Meitinger war dabei die allerbeste Wahl. Doch Christiane hatte sich nicht damit abfinden wollen, nichts anderes als die Dekoration eines wohlhabenden, für sie viel zu alten Mannes zu sein. Sie hatte von ihrem Wissensdurst nicht lassen können, der ihrem Vater als Sünde galt,und ihre Sehnsucht nach Romantik und Leidenschaft gelebt, was eine herbe Enttäuschung gewesen war.
Vielleicht war es die Strafe für ihre überheblichen Sehnsüchte, plötzlich ohne den Schutz ihres großzügigen Gatten dazustehen – und sich all jenen Entscheidungsfindungen ausgeliefert zu wissen, die sie sich im Grunde ihres Herzens stets
Weitere Kostenlose Bücher