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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Galvani
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gekommen. Nicht nur der Herr war aus Severins Schreibstube gelaufen, auf dem oberen Treppenabsatz erschien eine adrette Frau mittleren Alters, die nicht minder erschrocken war als Christiane über die unerwartete Begegnung.
    So viele fremde Leute in ihrem Haus – Christiane hatte gezittert und nicht aufgehört zu kreischen. Der kleine Johannes war natürlich aufgewacht und greinte ebenfalls, wobei seine kräftige Stimme mit ihrem Wehklagen in Wettstreit geriet. Aufgescheucht von dem ungewohnten Lärm, war der Druckerlehrling ausgeschickt worden, nach dem Rechten zu sehen. Anton stand stumm am Fuße der Stiege und starrte die Meitingerin an, die sich nicht fassen konnte.
    »Ruhe!«
    Es war wie ein Donnerhall.
    Christianes Lippen schlossen sich nicht, aber aus ihrem Mund drang kein Laut mehr. Auch das Kind war plötzlich still.
    »Gibt’s nichts anderes zu tun, als hier Maulaffen feilzuhalten?«, brüllte der Unbekannte, der sich zuvor offenbar in Severins Schreibstube aufgehalten hatte.
    Seltsamerweise fühlte sich Christiane ebenso angesprochen wie die Frau im oberen Stockwerk und der Lehrling am anderen Ende des Hauses. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden rührte sie sich nicht und verließ auch nicht den Schauplatz. Sie starrte den Fremden an und wunderte sich, welches Recht er zu besitzen glaubte, in Meitingers Heim mit dieser Selbstverständlichkeit zu agieren. Da nahm er sie am Arm und führte sie in die Schreibstube, griff nach dem Kind und drückte sie auf einen Stuhl. Widerstandslos ließ sie es geschehen. Selbst Johannes schien von der Autorität des Herrn überzeugt: Er starrte ihn verwundert an und blieb stumm, als er auf den Boden gesetzt wurde.
    »Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier?«, fragte Christiane matt.
    »Das könnte ich Euch auch fragen«, antwortete er, während er nach der Karaffe im Buchregal griff, einen kleinen silbernen Becher füllte und wieder vor Christiane trat. »Aber die Formalitäten können wir später klären. Nehmt zuerst einen kräftigen Schluck. Der Obstbrand wird Eure Nerven beruhigen.«
    Seine Worte brachten die Erinnerung an den Blutstropfen zurück. Christiane begann wieder zu zittern und verspürte erneut den Wunsch, sich Schock und Verzweiflung von der Seele zu schreien – oder zu würgen. Doch da setzte er den Kelch an ihre Lippen und erstickte Laut und Brechreiz. Schließlich schüttelte sie der Hustenanfall.
    »Geht es wieder?«
    »Nein.«
    Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Schreibpult, kreuzte die Beine und betrachtete sie eingehend. »Dies scheint ein seltsames Haus zu sein«, meinte er im Plauderton. »Als ich es betrat, traf ich niemanden an außer einer bewusstlosen Frau, die in einer Blutlache lag ...«
    Christiane schlug sich die Hand vor den Mund. Trotz zittriger Knie versuchte sie aufzuspringen, doch der Mann trat behende vor und drückte sie auf den Stuhl.
    »Bleibt sitzen! Eine zweite Ohnmacht ertrage ich nicht ... Für die Dame ist gesorgt. Kalte Umschläge, eine kleine Operation, die Verabreichung von Mutterkorn – was weiß ich. Ich habe mich hierher zurückgezogen, als die Hebamme kam.«
    »Seid Ihr ein Medicus?«, erkundigte sich Christiane, um Fassung ringend.
    »Nein«, er lächelte freudlos. »Nein, ich habe kürzlich ein Buch über Frauenheilkunde veröffentlicht. Interessante Lektüre.« Er verneigte sich leicht. »Ich bin Wolfgang Delius, ein Reisender aus Frankfurt, mit den Buchprivilegien eines Verlegers ausgestattet.«
    Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, wo sie ihn schon einmal gehört hatte. »Und in welcher Angelegenheit seid Ihr hier?«
    »Das verrate ich Euch nur, wenn Ihr mir sagt, wer Ihr seid.«
    »Werdet nicht unverschämt. Ihr befindet Euch in meinem Haus.«
    »Oh! Ich dachte, die Dame ...«, er unterbrach sich und starrte sie verwundert an, offenbar zu keinem weiteren Wort mehr fähig.
    Christiane hatte das Gefühl, mehrere Dinge gleichzeitig tun zu müssen, doch sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte. Die Vernunft versagte ihr den Dienst. Sie musste nach Marthasehen. Sie sollte den Fremden hinauswerfen, obwohl er ihrer Cousine zweifellos einen Dienst erwiesen hatte. Aber er benahm sich ihr gegenüber äußerst rüpelhaft. Sie musste die Magd suchen und den Fußboden gründlich wischen lassen. Es war an der Zeit, Vorbereitungen für Severins Heimkehr am Abend zu treffen. Warum war der alte Titus noch nicht von seinem Ausflug heimgekehrt? Es war wichtig, sich um seinen Verbleib zu kümmern,

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