Die Hüterin des Evangeliums
inzwischen über Severin erfahren habe, werde ich in absehbarer Zeit sicher kein Auge mehr zutun.«
Ihre Cousine und beste Freundin runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du?«
Einer Eingebung folgend beschloss Christiane jetzt doch, von ihrer Entdeckung zu erzählen. Sie musste sich einfach einem anderen Menschen anvertrauen, um ihr weiteres Vorgehen zu planen, Möglichkeiten zu überdenken und Befürchtungen abzuwägen. Es war ihr unmöglich, die anstehendenEntscheidungen allein zu treffen. Und wer eignete sich da besser als Martha?
Christiane deutete auf den Stuhl, der dem Schreibtisch am nächsten stand. »Setz dich her und schau dir das an. Ich bin zu verwirrt, um mir eine Meinung zu bilden. Es scheint mir einzig klar, dass dieses Material für einige Unruhe sorgen könnte.«
Bevor sie sich setzte, warf Martha einen Blick über Christianes Schulter. Erstaunt hielt sie in der Bewegung inne. »Das kenne ich ...!«
»Was?«
»Ja. Ich bin mir sicher, dieses Schriftbild schon einmal gesehen zu haben.«
Die Witwe des Druckers schob ihrer Cousine das Blatt zu, das zuoberst auf dem Stapel gelegen hatte. »Schau dir den Text genau an. Erinnerst du dich, wo du ihn schon einmal gelesen hast? Es ist eine Abhandlung über den Sinn oder Unsinn der Kindstaufe.«
Martha nahm den Bogen in ihre zitternden Hände und hielt ihn ins Licht. »Nicht das Sakrament, sondern der Glaube bringt uns in den Genuss der Vergebung der Sünden« , las sie mit tonloser Stimme, »im Worte Gottes, nicht im Sakrament hat der Mensch teil an der Gnade Gottes, an Gottes Reich und Leben ...«
»Das ist eine der Thesen von Wittenberg«, unterbrach Christiane das Zitat ein wenig ungehalten. »Bis dahin ist nichts Ungewöhnliches an den Zeilen, aber wenn du den Text weiter betrachtest, wirst du eine Formulierung finden, die mehr nach dem Teufel als nach Martin Luther klingt.«
»Woher weißt du das alles?«
»Sebastian hat mich dazu angehalten, die Worte des Reformators auswendig zu lernen, deshalb kenne ich jedes einzelne. Hat er dich denn nicht darin unterrichtet?«
»Nein«, Martha schüttelte den Kopf. »Nein, er hat meinen katholischen Glauben respektiert.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den Cousinen. Christiane fühlte sich unwohl, weil sie fürchtete, tiefer mit Sebastian Rehms Geisteswelt verbunden gewesen zu sein als seine Gemahlin. Unwillkürlich kehrte der eigene Ehebruch in ihre Gedanken zurück. Sie schluckte die unerwünschte Erinnerung herunter und forderte energisch: »Lies weiter!«
» Vor der Taufe muss der Glaube da sein. Dies ist unsere Pflicht zu Gott. Die Taufe der kleinen Kinder muss deshalb in Frage gestellt werden, denn diese verstehen die Verheißung Gottes nicht, auch den Glauben der Taufe können sie nicht haben. Man kann Kinder nicht auf ihren zukünftigen Glauben taufen, denn der Glaube muss vor oder in der Taufe sein ... Das verstehe ich nicht. Eltern, die ihr neugeborenes Kind nicht taufen lassen, begehen ein Verbot und werden von der Inquisition bestraft, das stellt niemand in Frage.«
»Stimmt, auch Protestanten nicht ...«
»Was sollen dann diese blasphemischen Worte?« Marthas blasse Wangen färbten sich vor Aufregung rot, in ihren zuvor noch antriebslosen Körper kehrte die Lebendigkeit zurück wie in die Glieder einer Marionette während des Spiels. Aufgebracht wedelte sie mit dem Papier herum. »Glaubst du, das hier stammt wirklich von Martin Luther? Das wäre furchtbar, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist, aber ich möchte es gerne herausfinden.«
»Wie kannst du das? Du bist nur eine Frau, du hast nicht studiert, Christiane. Woher willst du wissen, was die gelehrten Herren geschrieben haben?«
Christiane lächelte traurig. »Nun, fangen wir doch einfach damit an, dass du mir verrätst, wo du dieses Pamphlet schon einmal gesehen hast.«
Martha zögerte, senkte die Lider – und im nächsten Augenblick ahnte Christiane, dass Marthas Antwort etwas mit Sebastian zu tun hatte. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust, ihre Hand fuhr hoch und umschloss Marthas Finger – tröstend, aber auch drängend.
»Das hat Sebastian geschrieben«, presste Martha zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Christianes Hand sank herab. »Das kann nicht sein. Dein Mann hätte niemals das Wort Luthers ...«
»Woher willst du wissen, dass das nicht die Worte des Doktors waren?«, fuhr Martha ungewohnt heftig auf. »Vielleicht war er der Teufel, den der Heilige Vater in ihm sah ...
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