Die Hüterin des Schattenbergs
recht hast«, räumte sie ein. »Aber mein Herz sagt mir etwas anderes. Und so leid es mit tut, sosehr ich mich auch für meine Feigheit schäme; ich kann nicht anders, ich muss meinem Herzen folgen.« Seika löste einen kleinen Lederbeutel von ihrem Gürtel und zog einen langen dünnen Draht daraus hervor.
»Was ist das?«, wollte Jordi wissen.
»Eine Schlingensäge. W ir verwenden sie in den Buschholzniederungen, um die dünnen Äste für das Feuerholz zu ernten.« Seika rutschte nah an die W and des V erschlags heran, schlang den Draht um einen der Holzbalken und die Enden um ihre Handgelenke. Dann begann sie gleichmäßig abwechselnd links und rechts daran zu ziehen.
Jordi staunte. So eine Säge hatte er noch nie gesehen. Sie musste wirklich sehr scharf sein, denn sie schnitt durch die dicken Bretter, als wären sie aus Pergament. Es dauerte nicht lange, da hatte Seika drei Bretter des V erschlags durchtrennt und ein Loch geschaffen. Mit etwas Mühe schlüpfte sie hindurch.
»Kommst du mit?«, fragte sie Jordi im Flüsterton.
»Ja.« Jordi überlegte nicht lange. A ls Elev hatte er einen Eid geleistet, dem V olk Selketiens und den Magiern zu dienen, aber was hier von ihm verlangt wurde, war mehr, als er zu geben bereit war. Mühelos schlüpfte er durch das Loch.
»Was ist mit euch?«, fragte Seika die anderen leise, doch die schüttelten nur den Kopf und sagten: »Wenn es unsere Bestimmung ist, den Magiern mit unserem Leben zu dienen, dann soll es so sein.«
»Das ist sehr ehrenhaft von euch.« Seika drehte sich zu Jordi um und flüsterte: »Gibt es noch einen anderen A usweg als die T ür?«
»Ich weiß nicht.« Jordi schaute sich suchend um. Das Kellergewölbe war groß und verwinkelt. Zudem brannten nur wenige Lichter. Die meisten T eile des Raums lagen im Dunkeln. Seika huschte bereits durch das Gewölbe, um es zu erkunden. Enttäuscht kehrte sie zurück. »Nichts.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Wenn wir hier raus wollen, haben wir nur eine Möglichkeit.« Sie deutete auf die T ür.
»Aber die T ür ist von außen verschlossen und davor stehen zwei W achposten!« Jordi spürte, wie seine eben gewonnene Zuversicht zu schwinden begann.
»Ich weiß.« Seika schaute sich suchend im Laboratorium um.
Jordi wagte nicht, etwas zu sagen.
»Stell dich dort neben die T ür!«, wies Seika ihn schließlich an und deutete auf die W and neben dem T ürknauf, während sie gleichzeitig das T uch von ihren Haaren löste. Es bestand aus einem sehr langen, dünnen Schal, der von den Landfrauen Selketiens so kunstvoll um den Kopf geschlungen wurde, dass er alle Haare bedeckte.
»Was hast du vor?« Jordi beobachtete, wie sie ein Ende des Schals um das Bein eines Regals knotete. Darauf standen unzählige Gläser mit Flüssigkeiten, in denen tote T iere und andere Dinge schwammen, die Jordi lieber nicht näher betrachten wollte.
Mit dem anderen Ende des Schals in der Hand kam Seika zu ihm. »Wenn ich an dem Schal ziehe, wird das Regal umstürzen«, erklärte sie so schnell und leise, dass Jordi es kaum verstehen konnte. »Der Lärm wird die W achen alarmieren. Sie werden die T ür aufschließen, hereinkommen und zuerst auf das Regal schauen. Das ist unsere Chance. A ber wir müssen schnell sein. A lso: W enn die T ür aufgeht und die W achen hereinkommen, rennst du los – verstanden?«
Jordi nickte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
»Gut.« Seika schien zufrieden zu sein. »Wenn wir hier raus sind, trennen sich unsere W ege. Schau nicht zurück! Ganz gleich, was auch passiert, kehre nicht um! W arte nicht auf mich – versprich mir das.«
»Aber …!«
»Versprich es mir.« Seika schaut ihn ernst an. »Allein können wir uns besser verstecken, glaub mir. Nur so kann uns die Flucht gelingen. A lso?«
Jordi biss sich auf die Unterlippe. »Ich verspreche es.«
»Na, dann: Jetzt!« Seika zog so fest sie konnte an dem Schal.
Danach ging alles sehr schnell. Das Regal stürzte um. Die Gläser zersprangen mit einem ohrenbetäubenden Krachen und Klirren auf dem Boden, W asser spritzte, Scherben und T ierkadaver flogen durch die Luft. Gleichzeitig breitete sich ein ekelerregender Gestank in dem Kellergewölbe aus. Jordi blieb keine Zeit, sich das ganze A usmaß der Zerstörung anzusehen, denn schon wurde die T ür aufgerissen und die W achen stürmten herein. Jordi zögerte nicht; die V erwirrung ausnutzend, schlüpfte er an den W achen vorbei durch die T ür. Unbehelligt erreichte er den Flur und schaute sich
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