Die Hure: Roman (German Edition)
nach draußen.
Hier raucht Kalla.
Hier küsst Kalla den Mann, den sie von irgendwoher kennt.
Hier bestellt der Mann ein Taxi.
Hier sieht Kalla durch das Taxifenster, wie die Straßenlampen lange Lichtstreifen auf den feuchten Asphalt ziehen.
Hier findet Kalla ihren Hausschlüssel.
Hier zieht der Mann Kalla den Rock aus.
Hier zögert Kalla.
Hier sagt Kalla Nein.
Hier tut es Kalla weh.
Hier beginnt Kalla zu weinen, nicht sehr laut, aber doch so, dass man es in dem stillen Haus in der Nachbarwohnung hören kann.
Hier kommt es dem Mann.
Hier hört Kalla auf, sich am Laken festzuklammern.
Hier merkt Kalla, dass ein Acrylnagel abgebrochen ist.
Und das ist Kallas Morgen.
Der Mann sucht seine Kleider. Er holt die Schuhe aus dem Flur und setzt sich aufs Bett, um sie anzuziehen. Sand fällt auf den Teppich. Kalla dreht sich nicht um. Sie stellt sich schlafend. Der Mann nimmt seinen Mantel und geht.
Im Traum steht sie im Innenhof eines großen Einkaufszentrums. Dort wächst Gras. Die Wände des Einkaufszentrums sehen verwittert aus, dabei weiß Kalla, dass sie frisch getüncht sind. Der Hof ist von Mauern umgeben. Sie weiß nicht, wie sie in das Gebäude zurückkommt. Von der Erde erheben sich große, metallisch glänzende Fliegen, in deren riesigen Augen sie ihr Spiegelbild sieht, nur ist es nicht ihr wahres Spiegelbild: Es ist das Spiegelbild eines ähnlichen Insekts. Und sie betrachtet ihren Körper, er ist ganz schwarz, und er erhebt sich in die Luft und steigt auf und steigt auf und steigt auf, und als sie die Mauerkrone erreicht, sieht die Stadt ganz fremd aus.
Kalla müsste zur Arbeit gehen.
Sie müsste die Augen öffnen.
Müsste aufstehen.
Kalla will nicht. Sie will nichts, nie mehr, gar nichts.
Sie will sterben.
Aber es könnte schlimmer sein. Es könnte so viel schlimmer sein.
Sie denkt an die Mädchen, die man mit falschen Versprechungen in thailändische Bordelle lockt und gefügig macht, indem man sie zwingt, Scheiße zu essen.
Sie braucht keine Scheiße zu essen.
Sie denkt an die irakischen Frauen, die zum Tod durch Steinigung verurteilt werden, weil sie vergewaltigt wurden.
Sie wird jetzt nicht gesteinigt.
Sie denkt an die kleinen afrikanischen Mädchen, die von aidskranken Männern vergewaltigt werden, die glauben, Jungfräulichkeit würde sie heilen.
Sie ist kein kleines Mädchen mehr.
Kalla öffnet die Augen, steht auf und wäscht sich. Sie ist doch eigent lich noch ganz gut dran.
Und wenn man genauer über die Sache nachdenkt und sie sozusagen auf einer Skala einordnet, dann kann man eigentlich kaum behaupten, dass es sich um, na ja, um ein Verbrechen handelt. Vielleicht nur um nicht einvernehmlichen Sex? Oder unerwünschten Sex? Womöglich in Wahrheit nur misslungenen und schlechten Sex? Dummen Sex? Falschen Sex?
Sie holt die Zeitung aus dem Flur und wirft sie ungelesen zum Altpapier.
Im Treppenhaus grüßt sie die Nachbarin, sieht ihr aber nicht in die Augen.
Vor dem Haus grüßt sie den Hausmeister, sieht ihm aber nicht in die Augen.
Am Kiosk grüßt sie den Verkäufer, sieht ihm aber nicht in die Augen.
Sie hat gute Manieren. Sie ist höflich. Deshalb ist sie eine gute Kellnerin.
Sie ist eine gute Kellnerin im BBQ Paradies. Sie bringt den Gästen Teller mit Fleisch.
Doch an diesem Tag sieht das Fleisch sie an und fragt: »Weißt du jetzt, wie es sich anfühlt, ein Stück Fleisch zu sein, vertilgt zu werden und sich in Scheiße zu verwandeln?« Es ist die Stunde der Wahrheit. Kalla antwortet: »Ja, das weiß ich jetzt.« Ihre Chefin kommt in die Küche.
»Hör auf, mit dem Essen zu sprechen«, befiehlt sie.
»Aber das Essen hat angefangen.«
»Essen fängt nichts an. Essen ist passiv.«
Kalla bringt das sprechende Fleisch in den Speisesaal. Sie sieht Männer, die mit Messern Steaks zerschneiden, Frauen, denen Blut aus den Mundwinkeln rinnt, und Kinder, deren Finger und Gesichter vor Fett glänzen, und alle schauen sie an und singen:
»Kalla, Kalla, Kalla
Wie fühlt man sich
Wenn’s dumm gelaufen ist?«
Sie serviert das Fleisch, ein Rippenstück mit Knochen, wünscht guten Appetit und kehrt in die Küche zurück.
»Fräulein!«, ruft jemand. »Kommen Sie sofort her!«
Kalla geht wieder in den Saal, niemand singt mehr, alle bemühen sich, sie nicht anzusehen, die Leute beugen sich über ihre Portionen, verwenden Messer und Gabel, sogar die Kinder, nur verkehrt herum, sie stecken das Messer in den Mund, es gehört sich nicht, das Messer in den Mund zu
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