Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
und vertrieben, und ihre Nachfolgerin nahm manchmal noch den Duft war, den das Parfüm der Vorgängerin in der Wohnung hinterlassen hatte. Wohl derjenigen, die durch den Verkauf des Schmucks, der Kleider und anderer Geschenke wenigstens so viel Geld erhielt, um bescheiden davon leben zu können. Den wenigsten gelang dies. Die meisten endeten bestenfalls als Schneiderin oder als Nonne der Magdalenerinnen, dem Orden der gefallenen Frauen. Viel häufiger jedoch traten sie den Rückweg an, den Weg nach unten in die Hurenhäuser und, wenn man sie sogar dort irgendwann nicht mehr wollte, auf die Gassen, an die Dirnenecken, wo sie nach und nach im Elend versanken und starben, lange bevor der Tod sie erlöste.
Sich noch einmal darauf einzulassen, war mehr als ein Wagnis für Carlotta. Zudem war es nicht sicher, ob sie überhaupt einen Mann finden würde, der sie als Konkubine wollte. Mit ihren einundvierzig Jahren war sie schon fast zu alt, wenngleich es Männer gab, die derart greis waren, dass ihnen eine Einundvierzigjährige wie ein junges Füllen vorkam.
Doch hatte sie eine Wahl? Sie machte sich nur etwas vor, wenn sie glaubte, sie habe die Freiheit, den Schritt zurück in die Welt der Huren von Rom zu erwägen . Das war keine Frage, sondern eine Notwendigkeit. Sie hatte nichts gelernt, und vor einem Leben als Nonne graute ihr noch mehr als vor dem Tod in den Straßen von Rom. Wovon sollte sie leben? Gewiss, Antonia würde sie unterstützen, so lange sie konnte, aber Antonia besaß selbst nicht viel, und durch den Tod ihres Vaters war ihre Zukunft als Glasmalerin unsicher, wenn nicht unmöglich geworden. Viel wahrscheinlicher war, dass Carlotta schon bald Antonia unterstützen müsste. Und dann war da noch ihre verwirrte Pflegetochter Inés zu versorgen, die sie bei einer guten, jüdischen Familie in Trient gelassen hatte, der sie eine monatliche Pension zukommen ließ.
Der Kamm, den sie widerstrebend ergriff und durch die Haare zog, lag ihr schwer in der Hand. Heute, morgen, in einer Woche: Sie würde die Entscheidung nicht länger aufschieben können. Und sie würde mit Antonia darüber sprechen müssen.
Als es an der Tür klopfte, rief sie: »Antonia, bist du es? Komm herein.«
Da nichts geschah, warf sich Carlotta ein Morgenkleid über. Das Zimmer, das sie bewohnte, war nicht groß. Mit fünf Schritten war es durchmessen. Durch die geöffneten Fensterläden drangen die Geräusche der Piazza del Popolo in den dritten Stock herauf.
Sie öffnete und staunte.
Sandro Carissimi war nicht nur ein höchst seltener Gast, sondern er kam auch zu einer ungewöhnlich frühen Stunde vorbei. Sein schönes Gesicht sah verwüstet aus, als ob ein Sturm über eine verlockende Landschaft gezogen wäre. Seltsamerweise fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht wohl. Er hatte ihr nichts getan, im Gegenteil: Er hatte in Trient zu ihr gehalten, als andere sie für eine Bischofsmörderin hielten, und er hatte Inés nicht wie eine Irre behandelt, sondern war sanftmütig zu ihr gewesen. Sie mochte ihn recht gern, und doch wurde ihr unbehaglich. Vielleicht lag es daran, dass er so vieles über sie wusste, mehr als Antonia wusste, mehr als Hieronymus gewusst und geahnt hatte. Mehr als jeder andere in Rom kannte Sandro die Wahrheit über sie, fast die ganze, dunkle, verbrecherische Wahrheit, und das nahm sie ihm ein bisschen übel. Sie fühlte sich ihm ausgeliefert.
Obwohl sie sich seit der Beerdigung von Hieronymus nicht gesehen hatten, sagte sie ohne Begrüßung: »Antonia wohnt einen Stock unter mir, Bruder Sandro.«
Das war eine durchaus plausible Bemerkung, denn es war nicht anzunehmen, dass er ihretwegen gekommen war. Sie kannten sich und teilten ein Geheimnis, mehr nicht.
»Ich hätte Euch gerne gesprochen, Carlotta. Bei einem Spaziergang, wenn es Euch recht ist.«
Sie tauschte einen Blick mit ihm. »Wartet bitte.« Sie schloss die Tür und zog irgendein Kleid aus der Truhe, ein ausgebleichtes, hellrotes Kleid, dazu abgenutzte Schuhe. Ihren letzten Kunden, einen Bischof, hatte sie vor mehr als einem halben Jahr gehabt, kurz bevor sie Hieronymus kennenlernte. Seither hatte sie nichts mehr verdient, und deshalb besaß sie kaum noch einwandfreie Kleidung. Doch das störte sie nicht. Sie war eine zweifache Witwe, eine abgenutzte Konkubine, von allen Schlägen des Schicksals getroffen, und wenn sie aussah wie eine jener verblühten Tragödinnen des Theaters, wie Medea
oder Penelope, so war das nur die Wahrheit. Carlotta spielte
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