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Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom

Titel: Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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stirbt, ist ein mit nichts anderem vergleichbarer Moment von großer Unerträglichkeit. Für jeden Menschen ist es schwer, diese Welt zu verlassen, ja, es ist das Schwerste, was man tun muss: den Mondschein zu verlassen, das Licht, das Blau, das Grün, den Wind, die Musik, den Nebel, das Lachen der Kinder, den Geruch von Beeren, die Wärme einer Sommernacht... Jeder war mal dran. So war das Leben, so hatte Gott es eingerichtet. Aber jemand, der sein
Leben durch einen anderen Menschen verlor, fühlte sich betrogen, und dieser Vorwurf spiegelte sich in den Augen wider. Über die Gesichter der Sterbenden zog nicht nur der gewaltige Schmerz, sondern auch Abscheu und abgrundtiefer Hass für den Mörder, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Augen erloschen. Solche Gesichter vergaß man nicht. In der Stunde nach einem Mord war er jedes Mal so aufgewühlt, dass er die Toten am liebsten zurückgeholt hätte wie eine vom Brett gefallene Schachfigur. Beim Töten gab es keine Gewohnheit für ihn.
    Wenn er allein war, so wie jetzt, dann dachte er an seine Erloschenen. Ja, so nannte er sie: seine Gegangenen. Irgendwie gehörten sie ihm. Er hatte ihre letzten Worte entgegengenommen, ihren letzten Händedruck gespürt, ihr letztes Aufbäumen von Leben mitverfolgt, bevor sie in das geheimnisvolle Nichts abgeglitten waren. Bei manchen war es sehr schnell gegangen, wie bei jenem Franzosen – der Dolch traf ihn im Rücken, er seufzte auf und brach tot zusammen, anschließend verfrachtete er ihn auf einen Karren, bedeckte ihn mit einem Leintuch und warf ihn in den Fluss. Am schlimmsten war es mit der Zigeunerin gewesen. Trotz drei Stöße brabbelte sie noch eine ganze Weile in einer Sprache, die er nicht verstand, in einem schwächlichen, sonoren, schicksalsergebenen Tonfall, so als müsse sie vor ihrem Tod noch etwas erledigen. Auch sie verschwand auf immer im Tiber.
    Selten wusste er, warum seine Erloschenen hatten sterben müssen. Sie waren von so mannigfacher Ungleichheit wie die Stadt Rom selbst: die Zigeunerin, ein Bankier, ein jüdischer Händler von Schmuggelgut... Zwanzig Gegangene waren es bisher. Sein Auftraggeber war immer derselbe, und er hätte auch für keinen anderen gearbeitet.
    Der Todesengel stand ausschließlich dem Stellvertreter Christi zu Diensten.

5
    Carlotta da Rimini saß reglos vor dem Spiegel und vertiefte sich in ihr Gesicht. Sie überlegte, was sie mit diesem Gesicht anfangen würde, welche Zukunft es ihr böte, ob es überhaupt noch eine Rolle in ihrem Leben spielen sollte. Es war einmal schön gewesen. Nicht atemberaubend schön, aber es hatte das Glück einer jungen Ehefrau ausgestrahlt, das Glück einer jungen Mutter und das einer Frau, die ihre bescheidenen Wünsche erfüllt sah und nicht mehr verlangte. Doch das Glück lag sieben Jahre hinter ihr. Jahre, die sie und ihr Gesicht, ihren ganzen Körper von innen heraus verändert hatten. Die Abwesenheit des Glücks zog den Verlust der Schönheit nach sich.
    Es gab gewiss noch viele Männer, die sie begehrenswert gefunden hätten, die ihren stattlichen Busen, ihre Rundungen, ihre vollen Lippen angebetet hätten. Männer, die Körperteile liebten. Solche Männer bedeuteten Carlotta nichts, denn es ging nicht darum, ob andere meinten, dass sie noch immer schön und begehrenswert war. Sie selbst wollte es nicht mehr sein.
    Vor ihr ausgebreitet auf dem Tisch waren Farbtöpfchen und in etlichen Schalen und Dosen Mittel zur Hautpflege, doch sie rührte sie nicht an. Sogar einen Kamm zur Hand zu nehmen und damit ihr schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Lockenhaar zu bürsten, bereitete ihr Mühe und erweckte Widerwillen. Jeder Handgriff fiel ihr schwer, und ein Kleid anzuziehen war eine Prozedur, die sie längst nicht mehr jeden Tag in Angriff nahm. Schon morgens, so wie jetzt, war sie wie gelähmt; das Unglück schnürte sich wie eine schwere Kette um ihren Körper, und dieser Zustand begleitete sie mit wechselnder Intensität durch den ganzen Tag. Nur während eines einzigen Moments des Tages, des Moments des Erwachens, war
sie für die Dauer von ein, zwei Atemzügen unbeschwert, weil Herz und Verstand diese Zeit benötigten, um ihr in Erinnerung zu rufen: Hieronymus ist tot.
    Er ist tot.
    Ist tot.
    Tot.
    Er war ihre letzte, sehr kurze Liebe gewesen, die Winterliebe einer einundvierzigjährigen Frau, und um ein Haar wäre er ihr zweiter Ehemann geworden. Einen edleren Charakter als seinen gab es nicht. Er hatte darüber hinweggesehen, welchem Gewerbe sie

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