Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
länger zu und vergaß die Zeit, vergaß Sandro und Milo, die in einigem Abstand warteten.
Der Gottesdienst war schon lange vorüber, Signora A und die Frauen des Teatro waren längst gegangen, und nun kamen die Frauen, die sich vorher nicht getraut hatten. Es waren fast alles hübsche junge Frauen, denen weniger Trauer im Gesicht stand als die Angst, dass ein ähnliches Schicksal sie eines Tages treffen könnte. Sie gingen langsam und schweigend um das Grab herum, sahen kurz hinein und verließen den Kirchhof wieder, ein Trauermarsch der Huren, ein Marsch wie ein Gebet. Eine der Frauen, fast noch ein Mädchen, spielte Laute, immer und immer wieder dasselbe Lied: »Was können wir armen Frauen tun?«. Alle anderen Frauen sangen leise im Chor. Es waren junge Stimmen, traurige Stimmen, heisere, verlebte Stimmen, aber sie alle kannten dieses Lied, das Antonia vorher noch nie gehört hatte. Andere Leute betrachteten das Schauspiel, meist sittsame Frauen mit steifen Gesichtern, und vier, fünf Männer, die hinter vorgehaltener Hand witzelten.
Als auch sie gegangen waren, stand Antonia noch immer vor dem Loch, in dem, in ein Leintuch gehüllt, jene Frau lag, die erst vor wenigen Monaten in Antonias Leben getreten war, sich unentbehrlich gemacht hatte und nun wieder verschwand wie eine Traumgestalt, ein Geist. Was blieb, waren Scherben der Erinnerung, kleine, leuchtende Teile gemeinsam verbrachter
Stunden. Manche dieser gläsernen Juwelen waren Sätze: »Natürlich bist du eine unmoralische Frau. Ich würde dich nicht lieben, wenn du moralisch wärst.« Oder: »Liebes, nur du kommst auf die Idee, aus einem Haufen Scherben eine erotische Andeutung zu machen. Hatten die Scherben phallische Formen, oder wie?« Mit ihr hatte Antonia, die sich sonst nur in der Liebe und in ihren Fenstern mitteilen konnte, sprechen können wie mit keinem anderen Menschen. Carlotta, das war auch die Umarmung einer großen Schwester, das waren Herbstspaziergänge in klarer Luft, das waren Worte, die niemand sonst auszusprechen wagte, der warme Geruch von Puder, Liebe, ein melancholischer Blick, das Mütterliche …
Antonia war, als schnüre es ihr die Luft ab. Zu viele Menschen hatte sie in diesem Jahr schon an die Erde verloren, um sie nicht zu hassen, um den Boden, auf dem sie stand und in dem die Geliebten versanken und vergingen, nicht zutiefst zu fürchten.
Milo und Sandro kamen, um sie mitzunehmen. Sie wollte nicht. Sie glaubte, solange sie an diesem Grab stünde, sei Carlotta noch nicht weg. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Wieso hat sie das getan? Wir alle lieben doch das Leben. Wir haben Anteil an dieser Welt, besitzen ein Stück davon … Man hat Felder, Häuser, Familie, Freunde, Nahrung, ein Bad. Bis zum Allerletzten hält man an dieser eigenen Welt fest. Das ist immer so, egal ob man ein Bauer oder ein Kaiser ist. Sogar die Amseln kämpfen um ihr Leben. Sicher, wir verlieren diesen Kampf letztendlich, aber die Frage ist doch, mit welcher Würde wir es tun. Was ist würdig an Carlottas sinnlosem Tod? Wieso hat sie sich umgebracht? Ich – ich verstehe es nicht.«
Milo nahm sie in die Arme. »Sie hat alles vernichtet, was sie besaß«, sagte er. »Ich vermute, sie war verwirrt. Nicht verrückt, das meine ich nicht. Nur – hoffnungslos. Sie hat ihre Zukunft nicht gemocht.«
Sie sah ihn an. Er sprach viele Dinge so aus, als habe er ihren wahren Charakter erkannt. Milo hatte etwas Intelligentes, Glaubwürdiges an sich.
»Ich sehe das nicht so«, sagte Sandro. »Ich glaube nicht an Selbstmord.«
Sie wandte sich Sandro zu. »Was meinst du damit?«
»Sie wurde ermordet. Einige Tage vor ihrem Tod erzählte sie mir, dass jemand in ihre Wohnung eingebrochen war. Und man hat sich überall nach ihr erkundigt.«
»Wer?«, fragte Antonia
»Das gilt es herauszufinden. Ich glaube einfach nicht daran, dass der Einbruch und ihr Tod nicht in einem Zusammenhang stehen.«
»Wenn das so ist«, sagte Milo. »Ich bin dabei. Ich helfe Euch, ehrwürdiger Vater.« Er nahm eine Handvoll Erde und warf sie in das Grab. »Kommst du?«, fragte er Antonia.
»Geht schon vor, ich komme gleich.« Sie sah den beiden Männern nach, den zwei Menschen, die ihr noch geblieben waren. Bei der Vorstellung, auch nur einen von beiden zu verlieren, gerieten ihr Herz und ihr Verstand in Panik. Das wäre tatsächlich schlimmer als der Tod, dachte sie.
Der Regen wurde stärker. Ein letztes Mal wandte Antonia sich Carlotta zu.
»Ich – ich habe das Kleid an,
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